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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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Ereignis, an dem wir beide nicht schuld sind, mir wegnimmt, was mir auf der Welt das Liebste war. Aber ich habe es begriffen. Für dich war es nicht das Liebste, es war dir nicht einmal wichtig genug, einen Moment lang über deinen Hass hinwegzusehen. Also halte ich jetzt mein Versprechen und gehe aus freien Stücken wieder fort.«
    Sie strich sich das Haar hinter die Ohren, auch wenn es sofort wieder hervorsprang, drehte sich um und machte sich auf den Weg, ohne zu wissen, wo sie war und wohin sie sich zu wenden hatte. In den engen Durchgang fanden die letzten Strahlen der Abendsonne keinen Einlass. Sie fröstelte und wünschte, sie hätte ihr Schultertuch nicht auf der wilden Flucht verloren. Die Zeit für ihre Englischstunde war längst vorbei, vermutlich suchte die Mutter wieder einmal die Stadt nach ihr ab, doch was kümmerte sie das? Was auf der Welt sollte sie je wieder kümmern, jetzt, da ihr Kampf verloren war?
    Zumindest würde diesmal nicht Ben für sie die Strafe beziehen. Ben würde nie wieder eine Strafe für sie beziehen, er würde aus ihrem Leben verschwinden, wie er schon einmal verschwunden war, und dieses Mal würde ihre Trennung endgültig sein. Tränen brannten ihr in den Augen und raubten ihr die Sicht. Sie zwang sich, nicht darauf zu achten, sondern tapfer weiterzugehen. Irgendwann musste sie auf jemanden treffen, der ihr den Weg nach Hause wies. Irgendwann musste sie in ihrer grenzenlosen Einsamkeit auf einen Menschen treffen.
    Etwas berührte ihre Schulter. Weich. Geradezu scheu. Eine Stimme sprach ihren Namen aus. Die einzige Stimme und den einzigen Namen. »Das ist nicht wahr, Ichtaca. Du hast mir auch gefehlt.«
    Im nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen, und falls er noch etwas sagte, konnte es auf der Welt kein Mensch hören, denn Katharinas Weinen war so laut wie das Clairon der Infanterie. Sie krallte eine Hand in seinen Rücken und die andere in sein Haar, wie um ihn zu hindern, ihr noch einmal zu entkommen. »Ich lass dich jetzt nie mehr weg«, stammelte sie unter Schluchzern. »Hörst du, Ben? Nie mehr.«
    »Ich heiße nicht Ben«, sagte er, und sie konnte hören, dass er lächelte.
    Sie hob den Kopf, wischte sich hastig das Geschmier von den Wangen und blickte zu ihm auf. Er lächelte nicht mehr, sah sie nur an, die rechte Braue erhoben. »Benito«, sagte sie, reckte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mundwinkel. Als kleines Mädchen hatte sie ihn hemmungslos mitten auf den Mund geküsst, aber das kleine Mädchen war nun endgültig begraben, und das Küssen als Erwachsene, als Ichtaca und Benito, würden sie erst lernen müssen.
    Er neigte den Kopf und küsste sie erst auf die Stirn, dann neben die Nase, und zuletzt berührte er ihre Lippen mit seinen und ließ sie einen Herzschlag lang liegen. Sie wollte reglos mit ihm stehen bleiben, bis die Ewigkeit vorüberging, und zugleich wollte sie vor Seligkeit hüpfen, so hoch und wild, wie ihr Herz schlug. Seine Lippen, die hart und fest aussahen, waren weich wie Seide, und von seinem Duft, in dem wie früher ein wenig Heu und Sattelleder hing, wurde ihr leicht im Kopf. Als er sich aufrichtete, hätte sie ihn zu sich zurückzwingen wollen, um die Süße ohne Ende zu kosten.
    »Ich darf das nicht tun, Ichtaca«, sagte er. »Das weißt du, oder?«
    »Woher soll ich solchen Unsinn wissen? Warum darfst du nicht, wer verbietet es dir?«
    Bitter lachte er auf. »Die halbe Welt.«
    »Dann hören wir eben auf die andere Hälfte.« Sie nahm sein Gesicht in die Hände und wollte es zu sich hinunterziehen, er aber ließ es nicht zu. Geradezu zärtlich strich er ihre Hände von seinen Wangen.
    »Du bist noch so jung«, sagte er.
    Katharina stöhnte. »Aber du bist dein eigener Großonkel, was?«
    Er musste lachen. Das hatte sie an ihm geliebt, als sie Kinder waren, dass er, selbst wenn die Wut ihn ergriff, machtlos gegen sein Lachen war. Verblüfft wirkte er obendrein. »Findest du mich jung?«
    Sie packte seinen Kopf und küsste ihn. »In der Tat. Im Augenblick beträgst du dich, als wärst du gerade drei Jahre alt.«
    Benito musste wieder lachen. »Du bist ziemlich unverschämt, weißt du das?«
    »Ja.«
    »Und unverschämt zu einem Mann zu sein ist gefährlich, weißt du das auch?«
    »Zu dir nicht«, sagte sie und küsste sein Ohr.
    Sachte befreite er sich, strich ihr dabei übers Haar und erlaubte seinen Fingern, sich kurz darin zu verlieren. Niemand fasste ihr Haar gern an. Aber Benito tut es, jubelte es in ihr. »Wirst du

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