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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sagte er, dürfte ich keinen Fuß mehr nach draußen setzen. Einkäufe und Besorgungen werde er selbst erledigen. Ich hielt ihm vor, das wäre lächerlich, aber er beharrte darauf und wollte es sich nicht ausreden lassen.
    «Ich will nicht wie eine Kranke behandelt werden, nur weil ich schwanger bin», sagte ich.
    «Es geht nicht um dich», sagte Sam, «sondern um die Schuhe. Jedes Mal wenn du ausgehst, werden deine Füße nass. Die nächste Erkältung ist vielleicht nicht so einfach zu kurieren, und was würde aus uns, wenn du richtig krank würdest?»
    «Wenn du dir solche Sorgen machst, warum gibst du mir dann nicht deine Schuhe, wenn ich ausgehe?»
    «Die sind zu groß. Du würdest wie ein Kind damit herumschlappen und früher oder später hinfallen. Und dann? Sobald du den Boden berührtest, würde jemand sie dir von den Füßen reißen.»
    «Was kann ich dafür, dass ich kleine Füße habe. Die sind mir angeboren.»
    «Du hast wunderschöne Füße, Anna. Die zierlichsten kleinen Hüpfefüßchen aller Zeiten. Ich bete diese Füße an. Ich küsse den Boden, auf den sie treten. Und deswegen müssen sie beschützt werden. Wir müssen dafür sorgen, dass ihnen nie etwas zustößt.»
    Die nächsten Wochen waren schwierig für mich. Ich sah Sam seine Zeit mit Dingen vergeuden, die ich ohne weiteres selbst hätte erledigen können, und das Buch kam fast gar nicht mehr voran. Es ärgerte mich maßlos, dass ein lumpiges Paar Schuhe solche Scherereien machen konnte. Von dem Baby war jetzt erstmals etwas zu sehen, und ich fühlte mich wie eine unnütze Kuh, eine tölpelhafte Prinzessin, die den ganzen Tag zu Hause saß, während ihr Herr und Ritter in die Schlacht marschierte. Wenn ich nur ein Paar Schuhe auftreiben könnte, sagte ich mir ständig, dann käme das Leben wieder in Gang. Ich begann mich ein wenig umzuhören, fragte Leute beim Schlangestehen an der Spüle und nahm sogar ein paarmal an den Peripathetischen Stunden unten im Vorsaal teil, um zu sehen, ob mir igend jemand einen Hinweis geben könnte. Nichts kam dabei heraus, aber dann traf ich eines Tages zufällig Dujardin im Korridor des fünften Stocks, und er fing sofort eine Unterhaltung mit mir an, plauderte drauflos, als wären wir alte Bekannte. Ich war Dujardin seit unserer ersten Begegnung im Zimmer des Rabbi stets aus dem Weg gegangen, und diese plötzliche Freundlichkeit seinerseits kam mir komisch vor. Dujardin war ein pedantischer kleiner Schleicher, und in all diesen Monaten war er mir genauso sorgsam ausgewichen wie ich ihm. Jetzt war er ganz Lächeln und teilnahmsvolle Sorge. «Ich habe gehört, dass Sie ein Paar Schuhe brauchen», sagte er. «Wenn das zutrifft, könnte ich in der Lage sein, Ihnen Hilfe anzubieten.» Ich hätte gleich merken müssen, dass da etwas nicht stimmte, aber die Erwähnung des Wortes «Schuhe» brachte mich aus der Fassung. Ich war so verzweifelt dahinter her, musst du wissen, dass es mir nicht einfiel, seine Motive zu hinterfragen.
    «Die Sache ist nämlich die», schnatterte er weiter, «ich habe einen Vetter, der mit, hmmm, wie soll ich mich ausdrücken, mit An- und Verkauf zu tun hat. Brauchbare Gegenstände, ja? Konsumgüter und Ähnliches. Manchmal laufen ihm Schuhe über den Weg – die ich jetzt trage, zum Beispiel –, und ich glaube, man darf davon ausgehen, dass er gegenwärtig noch andere auf Lager hat. Da ich ihn zufällig heute Abend besuchen werde, würde es mir nichts, absolut nichts ausmachen, Ihretwegen ein paar Erkundigungen einzuziehen. Natürlich müsste ich Ihre Schuhgröße wissen – hmmm, nicht sehr groß, möchte ich meinen –, und wie viel Sie dafür ausgeben wollen. Aber das sind Nebensachen, bloße Nebensachen. Wenn wir uns für morgen verabreden könnten, werde ich Ihnen wohl schon etwas Näheres sagen können. Schuhe braucht schließlich jeder, und wenn ich sehe, was Sie da an den Füßen haben, ist mir begreiflich, warum Sie herumgefragt haben. Lumpen und Fetzen. Das reicht einfach nicht, nicht bei dem Wetter in diesen Zeiten.»
    Ich sagte ihm meine Schuhgröße, wie viel Geld ich ausgeben konnte und vereinbarte mit ihm einen Termin für den nächsten Nachmittag. So herablassend er sich auch gab, ich hatte einfach das Gefühl, Dujardin versuchte nett zu sein. Vermutlich profitierte er an dem Geschäft, das er für seinen Vetter anbahnte, aber darin vermochte ich nichts Schlechtes zu sehen. Wir alle müssen irgendwie zu Geld kommen, und wenn er nebenbei noch die eine oder andere Sache

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