Im Land der letzten Dinge (German Edition)
diese Weise einige Stellen aus Herodot gelesen zu haben, und an einem Abend las ich das komische kleine Buch, das Cyrano de Bergerac über seine Reisen zum Mond und zur Sonne geschrieben hatte. Am Ende aber wanderte alles in den Ofen und ging in Rauch auf.
Wenn ich jetzt so daran zurückdenke, glaube ich immer noch, dass es gut für uns hätte ausgehen können. Wir hätten das Buch beendet, und früher oder später hätten wir eine Möglichkeit gefunden, nach Hause zurückzukehren. Hätte ich gegen Ende des Winters nicht einen dummen Fehler begangen, säße ich jetzt womöglich dir gegenüber und würde dir diese Geschichte in eigener Person erzählen. Dass mir dieser Fehler unbeabsichtigt unterlaufen ist, macht ihn nicht weniger schmerzlich. Ich hätte es besser wissen müssen, aber durch mein impulsives Handeln, bei dem ich jemandem vertraute, dem ich nicht hätte trauen dürfen, habe ich mein ganzes Leben zerstört. Diese Behauptung ist keine dramatische Übertreibung. Durch eigene Dummheit habe ich alles kaputtgemacht, und mir allein kommt die ganze Schuld daran zu.
Das geschah so. Kurz nach der Jahreswende stellte ich fest, dass ich schwanger war. Im unklaren darüber, wie Sam diese Neuigkeit aufnehmen würde, behielt ich sie eine Weile für mich, bis mich eines Morgens heftige Übelkeit befiel – kalter Schweiß, Erbrechen auf den Fußboden – und ich ihm schließlich die Wahrheit eröffnete. Es war kaum zu glauben, aber Sam war glücklich darüber, womöglich noch glücklicher als ich selbst. Es war ja nicht so, dass ich das Kind nicht haben wollte, aber ich hatte Angst, da war nichts zu machen, und es gab Zeiten, wo mein Mut mich verließ und mir der Gedanke, unter diesen Umständen ein Kind zu gebären, wie der reine Wahnsinn vorkam. Sam freilich war so begeistert, wie ich besorgt war. Die Vorstellung, Vater zu werden, stimulierte ihn geradezu, und allmählich beschwichtigte er meine Zweifel und brachte mich dazu, meine Schwangerschaft als gutes Zeichen zu betrachten. Das Kind sei der Beweis, dass wir verschont geblieben wären, sagte er. Wir hätten über die Wahrscheinlichkeit gesiegt, und von jetzt an würde alles anders. Indem wir gemeinsam ein Kind gezeugt hätten, hätten wir den Beginn einer neuen Welt möglich gemacht. Nie zuvor hatte ich Sam so reden hören. Solch mutige, idealistische Gefühle – es erschreckte mich fast, dergleichen aus seinem Mund zu vernehmen. Aber das heißt nicht, dass es mir nicht gefiel. Es gefiel mir so sehr, dass ich es schließlich selber glaubte.
Vor allem wollte ich ihn nicht im Stich lassen. Trotz einiger schlimmer Morgen in den ersten Wochen blieb ich bei guter Gesundheit, und ich versuchte, meinen Teil der Arbeit genauso weiter zu leisten wie zuvor. Mitte März deutete manches darauf hin, dass der Winter allmählich an Kraft verlor: Es stürmte nicht mehr ganz so häufig, die Tauperioden dauerten ein bisschen länger, nachts schienen die Temperaturen nicht mehr ganz so tief zu sinken. Ich will damit nicht sagen, dass es warm geworden wäre, aber es gab zahlreiche kleine Anzeichen dafür, dass es in diese Richtung ging, ein ganz bescheidenes Gefühl, dass das Schlimmste überstanden war. Wie der Zufall es wollte, gingen mir gerade um diese Zeit die Schuhe kaputt – dieselben, die Isabel mir vor so langem geschenkt hatte. Es wäre mir unmöglich, auszurechnen, wie viele Meilen ich in ihnen gewandert bin. Sie hatten mich seit über einem Jahr begleitet, jeden meiner Schritte mitgemacht, mich in jeden Winkel der Stadt gebracht, und jetzt waren sie völlig hinüber: Die Sohlen waren durchgelaufen, das Oberleder hing in Fetzen, und obwohl ich mein Bestes tat, die Löcher mit Zeitungen zu verstopfen, mussten sie vor den Straßen voller Wasser kapitulieren, und wann immer ich nach draußen ging, wurden meine Füße nass. Dies geschah einmal zu oft, nehme ich an, denn eines Tages Anfang April bekam ich eine Erkältung. Und zwar eine richtige, mit allem, was dazugehört: Gliederreißen und Schüttelfrost, wundem Hals und Schnupfen. Sams Anteilnahme an meiner Schwangerschaft führte dazu, dass er diese Erkältung mit schier hysterischer Sorge betrachtete. Er ließ alles stehen und liegen, um sich um mich zu kümmern, kreiste ums Bett wie eine durchgedrehte Krankenschwester, verschleuderte Geld für Luxusartikel wie Tee und Dosensuppen. Nach drei oder vier Tagen erholte ich mich, aber nun machte Sam mir Vorschriften. Solange wir kein neues Paar Schuhe für mich fänden,
Weitere Kostenlose Bücher