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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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einen Schrei der Verblüffung aus, so wunderlich war der
Anblick. Ameya warf das Laken über sich, aber Schwester Florinda hielt ihn fest
und sagte mit ihrer tiefen, strengen Stimme: »Nun, was soll das? Was führt ihr
beide euch auf wie die Kinder? Was ist mit dir, Neele? Willst du vielleicht
davonlaufen, weil du denkst, der arme junge Mann hier sei ein wildes Tier?«
    Â»Nein, natürlich nicht«, stammelte Neele. »Aber … was ist das?
Kommt es von dem Pfeilschuss? War der Pfeil doch vergiftet?«
    Die alte Nonne legte den Verletzten sanft zurück auf den Rücken,
deckte ihn zu und stellte die Blechschüssel mit dem Waschwasser beiseite. »Nein«,
antwortete sie. »Es hat gar nichts damit zu tun. Es ist nur eine harmlose
Hautkrankheit, die nicht schmerzt und nicht ansteckend ist. Alle Menschen
können sie bekommen, aber natürlich sieht man sie bei Menschen mit dunkler Haut
sehr viel deutlicher, und die Dummköpfe denken dann, so ein Mensch sei ein
Leopard oder Jaguar. Wir hatten einmal einen Jungen, den kleinen Jacob, der
dieselbe Krankheit hatte. Ach, das arme Kind! Da schleppte er sich schon mit
seiner Kinderlähmung dahin, und dann brachte man ihn noch in den Verruf, er sei
ein böses Tier!« Sie sammelte die Tücher auf und trug
das Waschbecken zur Tür, die Neele ihr zuvorkommend öffnete. »Zeig ihm, dass du
vernünftig bist!«, befahl sie, ehe sie hinausging.
    Neele, die sich von ihrem Staunen noch nicht ganz erholt hatte, zog
sich den hölzernen Stuhl herbei und setzte sich an den Bettrand. Es war ihr
jetzt peinlich, dass sie ihr Entsetzen so deutlich gezeigt hatte, und so
bemühte sie sich um eine Erklärung. »Du hast gesagt, der Pfeil könnte vergiftet
sein, und ich … ich dachte, irgendein schreckliches Gift hätte seine Wirkung
gezeigt. Deswegen habe ich so aufgeschrien. Nur deshalb.«
    Er legte mit einer schwachen Geste den Finger seiner freien Hand auf
die Lippen und bemühte sich um ein Lächeln. Sie merkte, dass er reden wollte,
aber kaum die Kraft dazu hatte, also half sie ihm mit Fragen weiter. »Hast du
es von Geburt an?«
    Er nickte matt.
    Â»Es tut doch nicht weh, oder?«
    Er schüttelte den Kopf, legte aber die Hand aufs Herz. Hier tut es mir weh , bedeutete er ihr. Dann begann er zu
flüstern. »Alle Menschen hier fürchten mich, auch meine eigene Familie. Ich
kann nicht heiraten, ich darf keine Kinder haben. Die Weißen haben keine Angst,
dass ich ein Tier sein könnte, aber wenn sie es erfahren, denken sie, es sei
die Syphilis, und das ist fast genauso schlimm.«
    Â»Dr. Bessemer doch gewiss nicht.«
    Â»Nein, aber wenige sind so klug und gut. Ich musste immer sehr
vorsichtig sein. Niemand außerhalb meiner engsten Familie durfte mich jemals
nackt sehen. Aber es kam doch immer irgendwie heraus, und die Leute wisperten.
Die jungen Männer meines Standes schlossen mich aus ihrem Kreis aus, und kein
Edelmann hätte mir seine Tochter gegeben.«
    Neele blickte in seine dunklen Augen, die voll Tränen waren. Sie
dachte an die Zeichnung auf der Hausmauer. Auf einmal wurde ihr in vollem
Ausmaß klar, was für ein schreckliches Leben das sein musste, wenn einem alle
Menschen misstrauten, wenn die eigene Familie sich argwöhnisch fernhielt und
keine Frau es jemals wagen würde, einen Jaguar zum Mann zu nehmen. Was nützte
es ihm, dass die Europäer diesem Aberglauben nicht anhingen, wenn sie ihn dafür
verdächtigten, an einer scheußlichen und schändlichen Krankheit zu leiden? Er
war auf jeden Fall ein Ausgestoßener.
    Â»Dr. Anderlies erfuhr es durch einen Zufall«, fuhr er mit leiser
Stimme fort. »Er sagte mir, was mir auch schon andere europäische Ärzte gesagt
hatte: Es sei eine harmlose und schmerzfreie Krankheit, freilich eine, die erblich
sei. Und wie könnte ich wünschen, Kinder zu haben, die dasselbe Leid ertragen
müssen wie ich? Sie würden mich jeden Tag ihres Lebens verfluchen.« Er geriet in solche Erregung, dass Neele ihm rasch
bedeutete, nicht weiterzusprechen, denn sein Atem ging schwer, und seine Brust
hob und senkte sich, dass sie fürchtete, die Wunde könnte wieder aufbrechen.
Mühsam bezwang er sich und sank in das Kissen zurück.
    Sie fasste nach seiner Hand und streichelte zart die feingliedrigen
und doch so kräftigen Finger. »Wenn Lennert das gesagt hat und andere Ärzte es
auch gesagt haben,

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