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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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vorwärtsgedrängt.
    Neele fiel beinahe über ihren Koffer, während sie ihr Billett
vorwies, denn schon drängte ein anderer hinter ihr, und noch einer schob seinen
Packen mit den Knien vorwärts, um die Hände frei zu haben. Der Lärm war unbeschreiblich.
Kinder plärrten, Mütter, die in dem Gedränge ihre Kleinen zu verlieren
fürchteten, schrien nach ihnen, Männer und Frauen stritten in wütenden Tönen,
Matrosen brüllten, und Offiziere bliesen in ihre Trillerpfeifen. Neele wurde
vorwärtsgeschoben, das Fallreep hinauf, wurde nach Vorzeigen ihres Billetts an
Bord gelassen und fand Zuflucht in einer Nische der Deckaufbauten, wo es nicht
gar so wüst zuging. Am liebsten hätte sie sich einfach auf ihren Koffer
gesetzt, geweint und sich nicht mehr gerührt, aber da hätte Frieder, der es
nicht leiden konnte, wenn Frauen »sich anstellten«, ihr schön etwas anschauen
lassen!
    Wenigstens ließ nach einer Weile, als der größte Teil der
Zwischendeckpassagiere im Bauch des Schiffes verschwunden war, der ärgste
Trubel nach, sodass sie nicht mehr von allen Seiten blaue Flecken bekam. Es
waren nicht allzu viele, die sich hier in Bremerhaven von ihren Angehörigen und
Freunden verabschiedeten. Die meisten hatten schon eine längere Reise aus einer
Stadt oder auch einem kleinen Dorf im Binnenland hinter sich und waren jetzt
nur mehr daran interessiert, sich so rasch wie möglich in ihren Kabinen
einzurichten und fürs Erste einmal Ruhe zu haben.
    Immer dichtere Rauchwolken pufften aus den beiden Schornsteinen und
breiteten sich wie schwarze Regenschirme über dem Deck aus. Plötzlich ertönte
das langgezogene Tuten der Dampfpfeife und warnte die Passagiere zum ersten
Mal, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Matrosen das Fallreep
einholten und die Leinen losmachten. Auf diese Warnung hin verdoppelte sich die
Hektik, das Geschrei war ohrenzerreißend. Beinahe zu spät gekommene Droschken
bahnten sich in wilder Hast ihren Weg durch die Menge und entließen ihre
Fahrgäste. Schwere, hoch beladene Rollwagen rumpelten über das
Kopfsteinpflaster auf die Laderampe zu, wo ihre Waren an Bord des Schiffes
gehievt wurden. Eine letzte Ladung Koffer und Seekisten wurde von schwitzenden
Trägern die Landungsbrücke hinaufgeschleppt. Das Stimmengewirr der erregten
Menge aus Schaulustigen, Passagieren und deren Begleitern übertönte den Lärm
der schreienden Arbeiter und der kreischenden Möwen am Himmel. Obwohl zwei
Barkassen den Hochseedampfer aus dem Hafen schleppen würden, quoll bereits
Rauch aus den Schornsteinen, und man hörte das grollende und rumpelnde Arbeiten
der Kolben im Innern des Schiffsbauches.
    Â»Neele, komm! Lass dir das nicht entgehen!«
Paula hakte sie unter und drängte sie auf die Reling zu. »So etwas erlebst du
nicht alle Tage. Siehst du die beiden kleinen Schiffe da? Das sind die
Schlepper, die die Meisje Mariaan aufs offene Meer
ziehen.«
    Neele ließ sich widerwillig an die Reling zerren. Es war ihr gleich,
wie das Riesenschiff den Hafen verließ. Der Kapitän würde schon wissen, was er
zu tun hatte. Außerdem nieselte es, und die kalten Tropfen fielen ihr in den Nacken.
Sie sah sich nach Frieder um, konnte ihn aber nirgends entdecken.
Wahrscheinlich hatte er ihrer beider Koffer in den
Schiffsbauch hinuntergetragen. Nun gut, er würde sich schon melden, wenn er sie
brauchte, und bis dahin konnte sie Paula den Gefallen tun und sich die Ausfahrt
aus dem Hafen ansehen, um nicht wieder hören zu müssen, dass sie sich für
nichts interessierte. Paula war eines von diesen unendlich wissbegierigen
Mädchen, die ständig ihre Nase in Meyers Konversations-Lexikon steckten und über das tollste Zeug Bescheid wussten – und sie ließ es Neele
fühlen, dass die nicht so belesen war!
    Ein leichter Ärger stieg in der jungen Frau auf, während sie
fröstelnd an der Reling stand und dem Gewirr im Hafen zusah. Man musste ja
deshalb nicht blöde sein, wenn man nicht gleich über alles Bescheid wusste, was
am anderen Ende der Welt vor sich ging. Sie hatte eben ihre eigenen Interessen,
und die hatten sich bislang vor allem auf Norderbrake konzentriert, nicht auf
Wilde in irgendwelchen fernen Ländern der Erde.
    Dann brüllte die Sirene zum zweiten und dritten Mal in einem Ton
auf, der Neele in den Ohren schmerzte. Erschrocken klammerte sie sich an die
Reling

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