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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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erklärte Lennert, als das prächtige Denkmal
der Menschlichkeit hinter ihnen in den Regenschleiern versank. »Es ist ja auch
inzwischen nicht mehr erlaubt, Männer und Weiber, Kinder und Erwachsene in
Boxen zusammenzuzwängen, vier bis sechs Personen auf einmal, sodass sie sich
kaum darin umdrehen konnten. Nein, diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Aber
auf eine gewisse Ungemütlichkeit werden wir uns schon einstellen müssen – und
eine lausige Speisekarte. Auf Schiffen gibt’s immer schlechtes Essen. Erinnert
ihr euch, was Jürgen von seinem Schiff erzählte? Da kamen immer nur Speck,
Kartoffel, Kohl und gelbe Erbsen auf den Tisch.«
    Â»Ja, aber warte, bis wir erst in Java sind!«,
widersprach die unverdrossene Paula. »Dort serviert man zu jeder Mahlzeit
gebratenes Huhn mit Reis und frisches Gemüse und Früchte, vom Baum gepflückt
und in Teig gebacken wie Apfelkuchen, das wird uns entschädigen für den vielen
geräucherten Speck.« Sie lachte so begeistert, dass
sogar Frieder sich ein schwaches Grinsen entlocken ließ.
    So ging das Gespräch hin und her, bis sie in den Hauptbahnhof von
Bremerhaven einfuhren. Von dort schleppten sie ihre Koffer in den
Schiffswartesaal dritter Klasse, einen tristen Saal aus grau getünchten
Ziegeln, in dem sich rasch viele Menschen ansammelten. Früher, so erzählte ihr
Lennert, ehe die Stadt Bremen ihnen diesen Wartesaal baute, hatten die
Reisenden hier bei Wind und Wetter im Freien darauf warten müssen, dass sie an
Bord gehen konnten. Neele hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Sie saß trostlos auf
einer der schwarzen Holzbänke, ihren Koffer zwischen den Knien, und lauschte
dem anschwellenden Durcheinander von Stimmen. Ihre Hände und Füße waren
eiskalt, und in ihrem Magen schien ein Übelkeit erregender Klumpen zu stecken, aber
sie wagte nicht nach einem Abtritt zu suchen. Wenn sie in der Menge verloren
ging? Wenn sie zurückkam, und Frieder, Paula und Lennert waren nicht mehr da?
Steif wie eine Holzpuppe saß sie da und umklammerte Paulas Arm. Wie konnte die
Frau nur so fröhlich sein? Nun, Paula hatte das Moor nie viel bedeutet, sie und
ihr Bruder waren in Bremerhaven aufgewachsen, Lennert hatte in Berlin studiert
und dann seinen ersten Posten als Dorfarzt in Norderbrake angetreten – und auf
der Stelle herausgefunden, dass es ihn niemals in einem Heidedorf halten würde.
Es war ja verständlich, dass sie in Norderbrake keine Wurzeln hatten. Aber
warum hatten sie Frieder anstiften müssen, dass er mit ihnen gehen wollte?
    Plötzlich ertönte ein gewaltiger Lärm. Eine Glocke wurde angeschlagen,
Männerstimmen brüllten, und Paula sprang auf. »Komm, komm!«,
rief sie. »Es geht los!«
    Angetrieben von den scharfen Befehlen zweier Offiziere, die sich
links und rechts des Ausgangs postiert hatten, stolperten die schwer beladenen
Auswanderer durch die Tür am anderen Ende des Wartesaals. Bald gab es ein
heilloses Gewühl, denn manche verloren in dem Durcheinander ihre Gepäckstücke,
bückten sich, um sie wiederzufinden, wurden von den Nächstkommenden angerempelt,
und nur das Dazwischentreten der Matrosen verhinderte eine Schlägerei. Die
Leute kletterten förmlich übereinander, so eilig hatten sie es, den Wartesaal
zu verlassen. Neele wurde von einem Matrosen an den Schultern gefasst und
vorwärtsgeschoben, während ein anderer Befehle brüllte, und dann stand sie im
Nieselregen mit ihrem Koffer auf der Kaje, eingezwängt in der unruhig wartenden
Menge, über die das Riesenschiff seinen Schatten warf. Frieder, Paula und
Lennert hatten alle Mühe, nicht von ihr getrennt zu werden, so gewaltig wogte
das Gewühl hin und her.
    Neele fühlte sich wie in einem Traum. Vor ihr verschwammen die Segel
und Schornsteine der zahllosen Schiffe hinter einer Wand aus Regen, Schmauch
und Dampf. So hoch, dass er die Kaje an dieser Stelle in ein unbestimmtes,
unheimliches Zwielicht tauchte, ragte der fünfstöckige Rumpf der Meisje Mariaan auf, eine solide Wand aus genieteten
Eisenplatten. Darüber türmten sich noch einmal die weißen Deckaufbauten
zwischen den langen Reihen der Davits für die Rettungsboote und zwei mächtigen
schwarz-weiß geringelten Schornsteinen, die das oberste Deck überragten. Jetzt
wurde das Fallreep heruntergelassen, ungeduldige Rufe hallten von allen Seiten,
und die wartende Menge wurde

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