Im Land der Mond-Orchidee
und riss den Mund auf, um zu verhindern, dass ihr die Trommelfelle
platzten. Eine gute Minute lang sandte das Ungetüm seinen Abschiedsgruà über
den Hafen, dann verstummte der infernalische Lärm, und Neele wagte es wieder,
den Mund zu schlieÃen. In ihren Ohren stach es wie von Hutnadeln. Feuchte
Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Von den unteren Decks und von der Pier
erklangen vielstimmige Abschiedsrufe, als die dicken Stahltrossen gelöst
wurden, mit denen die Meisje Mariaan an Land verankert
war.
»Wir fahren!«, rief Paula überglücklich.
»Ist das nicht wundervoll?«
»Ja«, stimmte Lennert ihr zu. »Aber wo ist eigentlich Frieder?«
3
J ürgen hatte in der
Nacht vor Neeles Abreise nicht schlafen können. Sooft er nahe daran war, in
Schlaf zu sinken, schreckte er wieder hoch und drehte sich auf seiner Matratze
einmal dahin, einmal dorthin. Er machte sich Vorwürfe, dass er nicht darauf
bestanden hatte, mit ihr zu reden. Wer weiÃ, vielleicht wäre sie geblieben,
wenn sie erfahren hätte, was er wusste. Aber sie war so reizbar gewesen, so
kurz angebunden, dass er gefürchtet hatte, sie würde ihm gar nicht zuhören, und
geärgert hatte er sich auch â¦
Wieder kreisten seine Gedanken, bis es schlieÃlich Morgen wurde.
Eigentlich hatte er vorgehabt, seinen Kummer hinunterzuschlucken und Neele
nicht wiederzusehen, nachdem sie vor dem Dorfladen gestritten hatten. Aber als
dann der Tag der Abreise kam, brachte er es nicht fertig. Im letzten
Augenblick, als der Zug schon losfahren wollte, stieg er in einem anderen
Waggon zu. Er wusste selbst nicht recht, was er eigentlich wollte. Mit Neele
reden, obwohl er wahrscheinlich kaum eine Chance hatte, ihren Entschluss â oder
besser gesagt, Frieders Entschluss â noch einmal zu ändern? Sie einfach nur
noch einmal sehen? Auf keinen Fall wollte er ihr begegnen, solange die anderen
dabei waren. Für die Doktorsleute wäre es nur peinlich gewesen, und Frieder
hätte sofort einen heftigen Streit mit ihm angefangen. Also hielt er sich in
einem Waggon am anderen Ende des Zuges auf, näher der Lokomotive, sodass er
früher ankommen musste und zusehen konnte, wie die Reisenden aus den anderen
Wagen stiegen.
Er führte seinen Entschluss aus. Pünktlich zur Abfahrt der Meisje Mariaan stand er auf dem Bahnsteig vor der Wartehalle
und spähte nach Neele und den drei anderen aus. Freilich hatte er nicht geahnt,
was für ein Gewühl auf dem schmalen Raum herrschen würde. Die Leute bewegten
sich nicht diszipliniert in den Wartesaal, sondern traten und stieÃen einander,
hoben ihr Gepäck auf die Schultern, um es vor dem Zugriff der anderen zu schützen,
und pressten ihre schreienden Kinder an sich. Einen Augenblick lang war Jürgen
überzeugt, dass er Neele gesehen hatte, aber als er sich zu ihr durchdrängen
wollte, war sie schon wieder in der Menge verschwunden. Da war auch der Doktor,
dessen lange, hagere Gestalt über die Köpfe der meisten anderen Leute
hinausragte. Jürgen versuchte, durch den Eingang zu gelangen, wurde aber von
einem bulligen Burschen in Uniform aufgehalten. »Ihr Billett?«
»Ich will nur hinein, um mit jemand zu sprechen.«
»Nichts da. Ohne Billett kommt hier keiner hinein.«
Er schob Jürgen auf eine Weise beiseite, die dem klar machte, dass er ernsthaft
eins auf die Nase bekommen würde, wenn er nicht eiligst gehorchte. Also zog er
sich durch die schmale Tür zurück, zornig, dass sein Vorhaben gescheitert war
und er Neele nun weder aufklären noch ihr wenigstens Lebewohl sagen konnte. Ihm
blieb nichts anderes übrig, als die Eisenbahngleise zu überqueren und auf der
anderen Seite der Station in den Zug einzusteigen, der ihn wieder nach
Norderbrake zurückbringen würde. Das wollte er gerade tun, als er verblüfft
stehen blieb.
Der Mann, der da etwas abseits der Menge mit einem anderen sprach
und in aller Eile mit ihm Geld gegen ein Billett zu tauschen schien, war das
nicht Frieder Selmaker? Ohne zu denken, stürzte Jürgen auf ihn zu und ergriff
ihn am Ãrmel. »Frieder! Was ist los? Warum bist du denn nicht drinnen? Und was
machst du â¦Â«
Der Unbekannte, der offenbar Frieders Billett erworben hatte, rannte
davon und verschwand im Eingang zur Wartehalle. Bei jeder Abfahrt eines
Ozeandampfers warteten ein Dutzend solcher Leute auf jemand, der seine Karte
aufgab, sei es, dass er im letzten
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