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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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Moment kalte Füße bekommen hatte oder der
Kapitän ihn nicht an Bord ließ – wie es Passagieren widerfuhr, die sichtbar
krank waren oder aus einem anderen Grund das Missfallen des Schiffsherrn
erregten. Eine Sekunde lang durchfuhr Jürgen ein heißer Strahl der Hoffnung,
die beiden Selmakers könnten gemeinsam zurückgeblieben sein. Aber wo war Neele?
Und die Wut in Frieders Gesicht, als dieser sich ihm zuwandte, verriet, dass er
ihn nicht erwartet hatte.
    Â»Du hast sie allein an Bord gehen lassen?«,
schrie er. »Wie kannst du …«
    Im nächsten Augenblick schoss Frieders harte Faust vor, und ein
Schlag traf Jürgen am Kinn, sodass sein Kopf zurückflog und ihm die Welt vor
den Augen verschwand. Er spürte noch, wie er sich drehte und auf das harte
Pflaster aufprallte, dann wurde alles schwarz um ihn her.
    Als er wieder zu sich kam, fand er sich in einem Kreis von Gaffern,
die ihn neugierig betrachteten, und zwei Wachleuten mit Säbeln, die von ihm
wissen wollten, was passiert sei. Er rappelte sich mithilfe einiger Umstehender
mühsam hoch. Nichts sei passiert, stieß er mühsam hervor, wobei er fühlte, wie
dick und blutig seine Unterlippe war. Er hätte einer guten Freundin ein Lebewohlküsschen
gegeben, das dürfte man doch wohl, wenn man jemanden zum letzten Mal sieht, und
da habe ihr Gatte die Nerven verloren …
    Die Wachleute jagten die Neugierigen weg und rieten Jürgen, sich zu
trollen, dann müssten sie ihn nicht mitnehmen. Er gehorchte. Mit steifen
Gliedern und brummendem Schädel querte er auf dem hölzernen Schutzweg die
Eisenbahngleise und setzte sich drüben in die Hütte, um zu warten, bis der
Bummelzug Richtung Norderbrake kam. Er blickte geradewegs aufs Meer hinaus,
aber obwohl es übersät mit Schiffen war, großen und kleinen, konnte er nirgends
einen Ozeanliner mit der Aufschrift Het Meisje Mariaan sehen. Sie musste bereits außer Sicht sein, unterwegs in das breite Becken der
Nordsee.

4
    A ls Käthe und
Merten Laudrun sich an diesem Abend zum Essen niedersetzten, war es ein
trauriges Mahl. Es war aber nicht nur die Abreise der jungen Leute, die sie so
niedergeschlagen stimmte. Vor allem Käthe machte sich Gedanken über Kümmernisse,
die weit zurück in der Vergangenheit lagen.
    Als das Essen abserviert war und die beiden, wie es ihre Gewohnheit
war, noch einen Schluck Obstschnaps tranken, sagte Käthe: »Ich bin überzeugt,
der Pfarrer hat ihr etwas davon erzählt, als er so mit ihr herumtuschelte. Aber
was soll das für einen Sinn haben? Elsie ist tot oder so gut wie tot, und Neele
zieht in dieses Land am Ende der Welt. Warum konnte er die Dinge nicht ruhen lassen?«
    Merten zuckte schwerfällig die Achseln. »Vielleicht hatte er ein
schlechtes Gewissen. Aber ich finde auch, wenn er ihr etwas sagen wollte, dann
hätte er es ihr zu einer Zeit sagen sollen, als sie noch hier wohnte und Gelegenheit
gehabt hätte, selber nachzuforschen.«
    Â»Was gibt’s da nachzuforschen? Wir wissen alle, was geschehen ist.«
    Â»Manche Menschen wollen ganz genau wissen, was aus ihren
Anverwandten geworden ist, auch wenn sie nichts als Ärger und Kummer von dem
haben, was sie dann erfahren. Wie auch immer, jetzt ist es so, wie es ist, und
niemand kann etwas dran ändern.« Damit stand er auf
und ging aus dem Esszimmer.
    Käthe rief die Wirtschafterin, um mit ihr gemeinsam das Geschirr
abzuräumen, dann blieb sie noch eine Weile im Salon am Feuer sitzen. Sie war
eben dabei, einzunicken, als ein heftiges Gepolter in der Diele laut wurde, und
dann erschien zu ihrer Verblüffung Jürgen mit einer aufgeplatzten Lippe.
Erschrocken rappelte sie sich hoch. »Was ist los?«,
rief sie. »Was ist geschehen? Bist du gestürzt, oder hat dich jemand überfallen?«
    Er bedeutete ihr mit einer wilden Geste zu schweigen, dann stieß er
hervor: »Ich war in Bremerhaven. Ich habe gesehen, wie die Meisje
Mariaan abfuhr. Und es war nur Neele an Bord!«
    Käthe starrte ihn an wie einen Verrückten. »Was soll das heißen, nur
Neele war an Bord? Was war mit Frieder? Und mit den Doktorsleuten?«
    Jürgen bediente sich, ohne zu fragen, an der Flasche mit dem
Obstschnaps, die in der Vitrine stand, dann – nachdem auch Merten dazugekommen
war – erzählte er den beiden alten Leuten, wie er Neele gefolgt war und gesehen
hatte, wie Frieder sein Billett an einen

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