Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
Vom Netzwerk:
die im Sonnenlicht blinzelte und sich
weigerte, in den ummauerten Garten zu gehen. Ihr Mann war einem Jagdunfall zum
Opfer gefallen, und den Ärzten schien es, dass sie Angst hatte, ebenfalls
erschossen zu werden, wenn sie die schützenden Mauern der Zelle verließ.
    Als man sie eingeliefert hatte, hatte niemand mit irgendeiner Form
von Heilung oder auch nur Besserung gerechnet. Tatsächlich erwartete man, dass
sie bald sterben würde. Aber zum allgemeinen Erstaunen erholte sie sich, soweit
man unter den gegebenen Umständen davon sprechen konnte. Ihre Sehkraft kehrte
zurück, sie konnte sich selbstständig bewegen und schlucken. Den Ärzten war
bald klar, dass die Kugel im Gehirn wanderte. Offenbar hatte sie unmittelbar am
Anfang eine wichtige Stelle getroffen, sodass aus der jungen Frau beinahe ein
lebender Leichnam wurde, war aber später ohne Druck durch das weiche
Gehirngewebe hindurchgeglitten, sodass sie einmal da, einmal dort größeres oder
geringeres Unheil anrichtete. Herausholen konnte man sie nicht, und eines Tages
würde sie zweifellos eine Blutung hervorrufen oder empfindliche Nerven
abklemmen, aber bis dahin lebte die Patientin ihr Leben, so gut sie eben konnte.
    Lange Zeit hatten die zuständigen Ärzte kein Interesse an dem wilden
Schreiben gezeigt. Sie kannten diese Art von Grafomanie von anderen Patienten
her, die meist Obszönitäten oder wirre Beschimpfungen niederschrieben. Dann
jedoch hatte ein junger Arzt mehr aus Neugier als aus Absicht eines der Blätter
aufgehoben, die von Rand zu Rand mit kleinen eckigen Buchstaben bedeckt waren.
Es schien eine Lebensgeschichte zu sein, die freilich in einer sehr
ungeordneten Weise niedergeschrieben war, ohne Absätze und Zwischentitel, und
zuweilen lief eine Zeile über die andere hinweg, wenn die Patientin schneller
geschrieben hatte, als sie eine neue Zeile anfangen konnte. Dennoch waren
geordnete Sätze und ein Zusammenhang zu erkennen, und der neue Arzt begann,
sich dafür zu interessieren.
    Zuweilen versuchte er, nachdem er eine Weile still auf dem Bett
gesessen hatte, eine Frage zu stellen. »Schreibst du über deine Freunde, Elsie?
Schreibst du über deinen Mann? Schreibst du über dein kleines Mädchen?«
    Bei dieser letzten Frage hielt sie inne, blickte kurz auf und schien
dann beim Weiterschreiben das Thema zu wechseln. Er spähte ihr über die
Schulter, aber das war ihr offenbar unangenehm, sie rutschte weg und legte den
Arm über die Niederschrift. Von da an gewöhnte der Arzt sich an, jeden Abend
die beschriebenen Papiere mitzunehmen und einen neuen Packen Kanzleipapier an
die Stelle zu legen, und wenn er Zeit hatte, suchte er in den verschachtelten
Niederschriften, wie ein Forscher einen Pfad in einem Dschungel sucht. Er
stellte bald fest, dass es ein Dschungel voll Gruben, Fallen und bösartiger
Raubtiere war.

2
    I n der Irrenanstalt
bei Flensburg stand der Arzt in der Tür und betrachtete die Kranke, die an die
Wand gelehnt in ihrem Bett saß. In den letzten Wochen war Elsie immer häufiger
bei klarem Bewusstsein gewesen, und er hatte versucht, ihr Fragen zu stellen,
aber sie weigerte sich. Er wollte nicht, dass sie starb, bevor er mehr erfahren
hatte.
    Sie hatte die spitzen Knie hochgezogen und die Arme darum
geschlungen. Ihr Gesicht war eingefallen, ihr Haar grau und flaumig wie
Löwenzahnsamen, aber in ihren Augen war nach vielen Jahren zum ersten Mal ein bewusster
Blick. Mit leiser, heiserer Stimme sagte sie: »Ich weiß, wo ich bin und wer Sie
sind. Ich weiß auch, dass ich bald sterben werde. Deswegen möchte ich meiner
Tochter eine Nachricht senden, die für sie wichtig sein könnte. Auf jeden Fall
möchte ich, dass sie es erfährt.«
    Â»Sie haben sehr viel geschrieben, und einen Teil davon haben wir an
Ihre Tochter in Norderbrake gesandt.«
    Â»Ich muss ihr diesen Brief noch unbedingt senden, es könnte ein
großes Unglück für sie bedeuten, wenn ich ihr nicht alles genau erkläre. Ich
erinnere mich, dass die Tante meines Mannes ständig um sie besorgt war. Was immer
ich und mein Kind taten, sie betrachtete es mit Misstrauen. Sie hatte den
Verdacht, dass es nicht das Kind ihres Neffen war, und sie hatte recht. Neeles
richtiger Vater war schon tot, als ich Heiner Laudrun kennenlernte.« Sie seufzte tief. »Das ist wohl der Grund, warum ich so
lange leiden musste, aber jetzt ist es beinahe vorbei. Sie brauchen mir

Weitere Kostenlose Bücher