Im Land der Mond-Orchidee
schaffen, und können dir mit Geld nicht helfen. Es nützt uns aber
allen nichts, wenn wir hier ständig streiten und miteinander böse sind.« Er setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre
Schultern. »Hör zu, wir versprechen dir, sobald wir in Java sind, helfen wir
dir mit allen Mitteln, wieder zurückzukehren, aber bis dahin wirst du uns nicht
mehr anschnauzen, einverstanden?«
Neele barg das Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Sie
wusste ja, dass sie den Freunden unrecht tat; die konnten nichts dafür, dass es
ihr schlecht ging. Aber sie fühlte sich nun einmal so elend, dass sie einfach
nicht die Kraft hatte, etwas anderes zu tun als zu klagen.
3
N eele hatte das
Gefühl, sich bereits seit Monaten an Bord des Schiffes zu befinden, als sie
endlich in den Sueskanal einfuhren. Dieser kürzte die Reise, die vor seiner
Fertigstellung im Jahr 1869 um den ganzen schwarzen Kontinent herumgeführt
hatte, beträchtlich ab, aber das änderte auch nichts mehr daran, dass die junge
Frau, in eine Mischung aus Trübsinn und Langeweile versunken, die Tage
vertrauerte. Sie wünschte vergeblich, sie könnte wenigstens stricken oder
Patiencen legen. Also saà sie in einem Deckstuhl, wenn sie einen ergattern
konnte â es gab immer zu wenige â, oder auf einer Taurolle und starrte in
Gedanken versunken vor sich hin, während Paula vergeblich versuchte, sie aufzuheitern.
Wenigstens hatte die heftige Ãbelkeit aufgehört, die sie anfangs nach jeder
Mahlzeit geplagt hatte. Sie wusste nicht recht, ob sie sich an die Schiffsreise
oder an die Schwangerschaft gewöhnte, jedenfalls blieb das Essen unten.
Afrika machte sich jetzt auch im Klima bemerkbar. Tagsüber herrschte
immer eine trockene Hitze bei wolkenlosem Himmel, während es nachts so kalt
wurde, dass die beiden Frauen froh über die Wärme des Maschinenraums waren.
Neele wunderte sich darüber; sie hatte gedacht, in Afrika müsste es immerzu
heià sein. Verdrossen saà sie an Deck und starrte hinüber zu der Seite des Roten
Meers, an der die Sinaihalbinsel vorüberglitt, und dachte daran, dass dies das
Land war, von dem in der Bibel die Rede war. Es bedeutete eine einzige Enttäuschung
für sie. Weit und breit gab es nichts anderes zu sehen als ein trostloses Ufer
aus gelbgrauem Sand und Felsgestein, an dem hin und wieder Ortschaften mit würfelförmigen
Häusern auftauchten. Manchmal führte ein Kameltreiber seinen Zug nah am Wasser
entlang, oder ein paar zottige Palmen schwankten im glühenden Wind. Das Ganze
hatte sehr wenig zu tun mit den prächtigen Illustrationen in ihrer Bibel, auf
denen riesige Heerscharen der Kinder Israels durch die Wüste Sinai in das Gelobte
Land zogen. Und auÃerdem war das Rote Meer nicht rot, sondern blau wie jedes
andere Meer auch.
Die tödliche Langeweile brachte es mit sich, dass man bereitwilliger
Bekanntschaften machte, als man es sonst getan hätte. Beinahe jeder Mensch war
einem recht, der sich anbot, um einem die Zeit zu vertreiben. So kam es, dass
Lennert eines Tages seiner Schwester und Neele mitteilte, er hätte die
Bekanntschaft eines Herrn gemacht, den er ihnen gerne vorstellen würde. »Er ist
Deutscher wie wir, stammt aus Husum und arbeitet schon sehr lange in den
Diensten der holländischen Kolonialbehörde auf Java. Ich habe ihn sehr
sympathisch gefunden, und es ist interessant, mit ihm zu reden. Er kennt das
Land in- und auswendig. Er ist ein Kontrolleur, das ist eine Art Amtmann, und
arbeitet jetzt in Batavia, nachdem er vorher schon in den verschiedensten
Teilen des Landes tätig gewesen war.«
»Hast du ihn nach Pastor Ormusâ Internat gefragt?«,
erkundigte Neele sich angespannt.
»Ja, aber er weià nichts davon. Er sagt, die Adresse, die ich ihm
gezeigt habe, sei nicht direkt in Batavia, sondern in einer kleinen Ortschaft
ein Stück auÃerhalb davon, über die er nicht näher Bescheid wüsste. Wenn ihr
wollt, stelle ich ihn euch heute Nachmittag vor.«
Für die beiden jungen Frauen bedeutete das, sich so säuberlich
herauszuputzen, wie es in ihren ungebügelten und mit Regenwasser gewaschenen
Kleidern eben möglich war. Neele schämte sich für ihr Aussehen, aber was wollte
sie machen? Es ging nun einmal nicht besser. Sie und Paula kämmten und
bürsteten sich, bis wenigstens an ihren Frisuren nichts auszusetzen war, und
dann warteten sie mit vor
Weitere Kostenlose Bücher