Im Land der Mond-Orchidee
Gewitter
hing immer bedrohlicher über der Stadt. Blitze zuckten an seinem schwarzblauen
Saum, und alle naslang fuhren heftige Windböen durch die Gassen und beugten die
Palmen.
Sie fühlte sich wie betäubt von der dumpfen, gewitterschwangeren
Schwüle, dem Lärm und dem geradezu lebensgefährlichen Durcheinander. Dennoch
sah sie sich neugierig nach allen Seiten um. Wie es schien, strömten die
Karren, Kutschen und anderen Fuhrwerke alle stadtauswärts, und sie erinnerte
sich daran, was Dr. Bessemer ihnen erzählt hatte, dass nämlich Europäer es
tunlichst vermieden, sich nach vier Uhr nachmittags noch in der Kota aufzuhalten,
weil eine einzige Nacht dort genügte, um einem bösartigen Fieber zum Opfer zu
fallen. Die einzigen Menschen, die man in groÃen Scharen in der Altstadt
verbleiben sah, waren die Chinesen, die dort ihr eigenes Viertel hatten, und
Mestizen, die von Portugiesen oder Engländern abstammen mochten.
Sie warteten eine gute Stunde lang, und die Gefahr, bei einem
Sturzregen im Freien zu sitzen, wurde immer gröÃer. SchlieÃlich sagte Lennert:
»Ich kann mir nicht vorstellen, was passiert ist. Vielleicht warten sie an der
falschen Stelle, oder sie sind irgendwie verhindert worden. Wie auch immer, wir
müssen selber zusehen, wie wir an unser Ziel kommen.«
Neele beobachtete, wie der Arzt zu den Kutschern der Büffelkarren
hinüberging, die hier das billigste öffentliche Verkehrsmittel darstellten, und
ihnen den Zettel mit der Adresse zeigte. Zwei schüttelten den Kopf, der dritte
nickte und bedeutete ihnen mit breitem Grinsen, sie sollten aufsteigen. Neele
gehorchte. Sie und Paula saÃen eng nebeneinander auf der unbequemen hölzernen
Bank, Lennert gegenüber, und sahen sich nach allen Seiten um, während der
Büffelkarren mit der ihm eigenen Gemächlichkeit dahinruckelte.
Und dabei war Neele schon so ungeduldig, sie sehnte sich so sehr danach,
endlich das Ziel der Reise zu erreichen, damit sie so rasch wie möglich Pläne
schmieden konnte, wie sie wieder nach Hause kam! AuÃerdem machte ihr der
schwere Gewitterhimmel Angst, der zunehmend bedrohlich über der Stadt hing. Wie
lange sollte die Fahrt denn noch dauern? Würden sie überhaupt unter ein Dach
gelangen, ehe Blitz und Donner und ein gewaltiger Platzregen losbrachen?
Der Büffelkarren verlieà die Altstadt und arbeitete sich in breiten
Serpentinen hangaufwärts zu einer dicht besiedelten Ebene hinauf. Sie fuhren an
einem hohen Gebäude mit ockerfarbener Fassade vorbei, das sich aus einem Saum
von Palmen erhob; die Schrift über dem Eingang kennzeichnete es als »Hotel des
Indes«. Nach einer Weile kamen sie auf einen groÃen, viereckigen, von Gebäuden
eingeschlossenen Platz, in dessen Mitte ein Standbild des Löwen von Waterloo
prangte. An den Platz grenzten Kasernen, ein Gefängnis und eine Zitadelle sowie
viele Gebäude, die offenbar die Büros von Militär- und Zivilbehörden
beherbergten, denn an den Türen standen Männer in europäischen Uniformen, und
durch die Türen strömten elegant gekleidete Europäer hinein und hinaus. Das
musste Weltevreden sein, das erste Stadtviertel, das auf der Ebene oberhalb des
Sumpfes gebaut worden war. Hier oben war die Luft frischer, trotz der immer heftiger
aufziehenden Gewitterwolken.
Neele fürchtete schon, es könnte dunkel werden, ehe sie ihr Ziel
erreichten, denn unter den Bäumen sammelten sich bereits die violetten Schatten
der Nacht. Der Büffelkarren schlängelte sich in gemächlichem Tempo die Serpentinen
einer gepflasterten StraÃe hinauf, die von einer grünen Terrasse zur anderen
führte, und mit jeder Serpentine entfernten sie sich weiter von den Lichtern
der Stadt. Die junge Frau schlang die Arme um den Oberkörper und bemühte sich,
ihren Mitreisenden ihre Nervosität nicht zu zeigen, aber in Wahrheit schlug ihr
das Herz bis zum Hals. Die Umgebung sah immer fremdartiger aus, und das
primitive Gefährt wirkte nicht eben vertrauenerweckend. Wenn der Kutscher sie
nun in einen Hinterhalt führte, um an ihr Geld zu kommen? Vielleicht dachten
die Leute ja, alle Europäer seien reich, und hatten keine Skrupel, sich deren
vermeintlichen Reichtum anzueignen.
Der Büffelkarren hatte die Stadt endgültig hinter sich gelassen und
holperte jetzt auf halber Höhe eines Bergrückens eine gepflasterte StraÃe
entlang, die zwischen
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