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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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angebunden.«
    Â»Und die Kinder?«
    Â»Es war einmal ein Kinderheim, das stimmt, aber in den beiden
Schlafsälen oben stehen nur mehr die nackten Bettgestelle, und die Schulzimmer
sind auch seit Langem nicht mehr benutzt worden. Im ersten Stock sind die
Zimmer eingerichtet, aber völlig verstaubt. Ich weiß nicht, was hier passiert
ist. Aber das können wir in den nächsten Tagen klären. Die nächstliegende Frage
ist jetzt, wo wir übernachten sollen?«
    Â»Jedenfalls nicht da drin!«, erklärte Paula
entschlossen. »Nicht, solange ich nicht weiß, wer dort drinnen wohnt. Lieber
übernachte ich im Freien.«
    Neele missfielen beide Möglichkeiten gleichermaßen. Sie ließ den
Blick über die Häuser und Gärten schweifen, die zusehends in der Dämmerung
versanken. Das Einzige, was ihnen zu tun übrigblieb, war, in einer der Villen
um ein Nachtquartier zu bitten. Vielleicht waren die Bewohner ja Deutsche, die
sich ihrer Landsleute in der Not annahmen.
    Sie wollten sich eben auf den Weg machen, als auf der gepflasterten
Straße draußen Hufschläge laut wurden. Sie klapperten näher und näher, und dann
zügelte jemand sein Pferd und rief auf Deutsch: »Was machen Sie denn da
drinnen? Suchen Sie den Pastor?«
    Neele fiel ein Stein vom Herzen. Es war ja doch alles in Ordnung.
Die Adresse war richtig. Pastor Ormus wohnte hier. Der Reiter würde ihnen
erklären, was geschehen war, sicherlich etwas ganz Harmloses, und dann konnten
sie so verfahren, wie sie geplant hatten.
    Â»Ja, wir suchen ihn, aber er ist nicht da!«,
rief Lennert zurück. »Wir sind heute mit der Meisje Mariaan aus Bremerhaven angekommen und sollten hier Arbeit finden. Können Sie uns
helfen?«
    Â»Warten Sie einen Augenblick.« Der Reiter
stieg ab und kam, sein Pferd mit sich führend, durch das Tor. Er nahm die
Laterne herab, die vom Torbogen des Instituts hing, zündete sie an und hielt
sie in die Höhe. Ein flackernder Schein fiel auf sein Gesicht. Neele sah sich einem
sehr gut aussehenden jungen Europäer gegenüber. Gekleidet in ein helles
Tweedsakko und Knickerbocker, einen Seidenschal lässig um den Hals geschlungen,
wirkte er jungenhaft und sportlich. Seine wohlgeformten Züge und vor allem
seine lebhaften Augen verrieten eine außergewöhnliche Intelligenz. Das Gesicht
war glatt rasiert, das gewellte sandfarbene Haar aus der Stirn gekämmt. Mund
und Augen zeigten einen Ausdruck von lässigem Selbstbewusstsein und einer Spur
Arroganz. Er mochte vielleicht noch ein wenig unreif sein; manches an seinem
Gesicht würde sich noch festigen und deutlicher ausprägen, aber dass er
keinesfalls ein Dutzendmensch war, daran bestand schon jetzt kein Zweifel. Vor
ihr stand einer der Menschen, die unter einem glücklichen Stern geboren werden,
denen das Schicksal alles in den Schoß wirft: Intelligenz, gutes Aussehen und
bürgerlichen Wohlstand.
    Â»Ich bin Richard Hagedorn«, sagte er. »Meinen Eltern gehört das Haus
da vorne an der Biegung der Straße. Was wollen Sie denn von dem alten Mann?«
    Als Lennert sich und seine Begleiterinnen vorgestellt hatte und
Hagedorn die Sachlage erklärte, schnitt dieser ein Gesicht. »Ich weiß nicht,
wie ich Ihnen das jetzt am besten sagen soll, aber Sie stehen in einer
Sackgasse. Hier gibt es schon seit zwei Jahren kein Waisenhaus und keine evangelische
Schule mehr. Ich sehe noch vor mir, wie es war, als all die Kinder hier
herumliefen, sangen und im Garten spielten, aber dann brach der Typhus aus, und
die meisten starben. Das hat der alte Mann nicht verkraftet. Seither geistert
er hier herum und bildet sich ein, es sei alles wie früher … Aber das können
Ihnen meine Eltern erzählen. Was wollen Sie denn jetzt mit sich anfangen? Haben
Sie eine Unterkunft?«
    Lennert schüttelte den Kopf. Es würde ihnen auch sehr schwerfallen,
eine zu finden, da sie kein Fuhrwerk hatten und den Weg zurück in die Stadt
nicht kannten. Und ihr Geld war auch schon sehr knapp.
    Hagedorn zeigte sich hilfsbereit. Sie sollten nur kurz warten, sagte
er, er würde gleich mit der Kutsche zurückkommen und sie zu einem Losmen, einer
einheimischen Herberge, ganz in der Nähe bringen. »Wir Europäer müssen doch
zusammenhalten, nicht wahr?« Dabei blickte er Neele
an, und im Schein der Laterne sah sie ein Lächeln, das sie vollkommen aus dem
Gleichgewicht gebracht hätte,

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