Im Land der Mond-Orchidee
sie so sehr, dass ihr übel wurde. Sie musste sich zwingen, an
ihm vorbeizugehen. Es war, als müsste sie sich durch Treibsand kämpfen, so
schwer fiel ihr jeder Schritt. Jetzt merkte sie, dass er vor sich hin murmelte,
rasch und mit speichelnden Lippen. Was er sagte, war nicht an sie gerichtet,
und doch galt es ihr â es hörte sich an wie eine Beschwörung, und Neele in
ihrem Schrecken war überzeugt, dass diese Beschwörung wirkte. Als würden die
hauchfeinen, klebrigen Fäden eines Spinnennetzes von allen Seiten um sie
gewickelt, wurden ihre Bewegungen immer langsamer. Der grüne Tunnel flimmerte
ihr vor den Augen, sie meinte, das Geräusch eines Wasserfalls zu hören, der
sich unmittelbar neben ihren Ohren ergoss. Immerzu murmelnd, hob der Alte den
Stab und stieà ihn, wie er es schon am Morgen getan hatte, wiederholt auf den
Boden. Dann trat er einen Schritt vor â und es war diese plötzliche Bewegung,
die Neele aus dem Zustand der Benommenheit erweckte. Sie fühlte sich
angegriffen, war überzeugt, dass er sie mit dem Stab schlagen wollte, und angesichts
dieser körperlichen Bedrohung kehrten ihr Verstand und ihre Kräfte zurück. Sie
stieà einen durchdringenden Schrei aus und hob beide Arme, um den Schlag
abzuwehren. Der kam jedoch nicht, der Alte begnügte sich damit, drohend in der
Luft herumzufuchteln. Vielleicht erschien ihm die groÃe, kräftige junge Frau
als eine zu gefährliche Gegnerin. Neele jedenfalls war erwacht, das Flimmern
vor ihren Augen erlosch, der Wasserfall in ihren Ohren verebbte, und sie
rannte, so schnell sie konnte, die StraÃe entlang. Ãber die Schulter blickend
sah sie, dass der unheimliche Greis ihr nachstarrte, aber jetzt war sie weit
auÃerhalb seiner Griffweite.
Atemlos erreichte sie das Gartentor der Hagedorns, trat hindurch und
lief zum Haus. Sie lieà den Messingklopfer an das Metallschild fallen und
hörte, wie drinnen im Haus der Klang widerhallte. Dann öffnete ein Dienstmädchen.
Gleich darauf erschien Frau Hagedorn, die viel Mitgefühl zeigte, als sie hörte,
dass es dem Pastor schlecht ging.
»Wo ist denn Dr. Anderlies?«, fragte sie.
»Es wäre doch das Nächstliegende, dass er sich um ihn kümmert!«
Als sie hörte, dass Lennert sich auf den Weg in die Stadt gemacht
hatte, grollte sie vor sich hin, während sie ihr Dienstmädchen rief und die
Kutsche vorfahren lieÃ. »Ich werde mich um den alten Mann kümmern«, sagte sie.
»Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ich ihn in einem solchen Zustand
vorgefunden habe. Steigen Sie mit ein, aber trinken Sie vorher noch ein Glas
Wasser! Ihr Gesicht ist ganz rot. Hier in den Tropen muss man alles langsam
angehen, auch wenn man sich einbildet, es sei alles sehr eilig.«
»Ich bin vor jemand davongelaufen«, gestand Neele. »Auf der StraÃe
stand ein widerwärtiger alter Mann, der Verwünschungen murmelte und mit seinem
Stock nach mir schlug.«
»Ein kleiner Kerl mit einer nackten Wampe und einem schmutzig gelben
Umhang?«, fragte Frau Hagedorn. Und als Neele bejahte,
fügte sie hinzu: »Das war der Suduk ⦠der Zauberpriester der Einheimischen.
Er hasst alle WeiÃen. Aber Sie brauchen keine Angst vor ihm zu haben, er würde
es nicht wagen, Sie anzugreifen. Die Behörden gehen sehr streng vor, wenn einer
der braunen Kerle sich an einem oder einer WeiÃen vergreift, und das weià er.
Ich werde mit meinem Mann sprechen. Es ist an der Zeit, dass wir wieder einmal
eine Beschwerde gegen ihn vorbringen. Vielleicht sperren sie ihn dann endlich
für längere Zeit ein. Die letzten drei Monate haben ihm offenbar nicht gereicht.« Dann wechselte sie abrupt das Thema und fragte nach
Pastor Ormus.
Neele erklärte: »Wir waren sehr erschrocken, als wir sahen, wie grau
sein Gesicht war. Er sah aus, als könnte er jeden Moment sterben.«
»Die Tropen verzehren die Menschen«, bemerkte Frau Hagedorn. »Er hat
sich immer überlastet mit seiner Arbeit, viel zu viel für die Kinder getan.
Diese Kinder waren keine Europäer, und es war sinnlos, ihnen europäische
Standards anzubieten. Es war ja gut und schön, ihnen ein Dach über dem Kopf zu
verschaffen, aber es wäre billiger auch gegangen.«
Damit schritt sie in den Hof hinaus, in dem die einspännige Kutsche bereits
vorgefahren war.
Als sie den Weg entlangrumpelten, sah Neele mit Erleichterung, dass
der
Weitere Kostenlose Bücher