Im Land der Orangenbluten
Julie.
»Misi.« Julie sah für einen kurzen Moment so etwas wie Neugier in ihren Blicken aufblitzen, bevor die beiden sofort wieder ehrerbietig den Blick senkten. Sie stoben davon, um das Gepäck vom Schiff zu holen. Karl rief derweil nach einer der Mietdroschken, die am Straßenrand warteten, und half Julie hinein.
Nach einer geraumen Weile fuhr die Kutsche langsam die breite Hafenstraße Waterkant entlang. Die beiden schwarzen Burschen und Aiku folgten mit einem Teil der schweren Koffer zu Fuß. Julie fragte sich zwar, warum man das Gepäck nicht mit in den Wagen lud, verkniff sich aber eine Bemerkung. Von Weitem erhaschte sie einen Blick auf einen großen Platz, hinter dem in einem gepflegten Park ein imposantes Gebäude emporragte. Karl erklärte, das sei der Sitz des Gouverneurs.
Trotz allem, in Julie regte sich jetzt Neugier auf dieses Land. Fasziniert sah sie sich um. Dicht an dicht standen die Häuser und erinnerten in ihrer bunten Ansammlung fast an eine kleine niederländische Stadt. Das lag nicht zuletzt an den Grachten und Kreeken, welche die Stadt durchzogen. Ab und an holperte der Wagen über eine hölzerne Brücke. Nur die großen tropischen Palmen, die der Allee mit ihren ausladenden Wedeln etwas Schatten spendeten, passten nicht in dieses Bild. Sie zeugten davon, dass sie sich auf einem ganz anderen Kontinent befand. Die drückende Hitze tat ihr Übriges. Julie wurde schnell gewahr, dass der Ratschlag der Frauen kein Scherz gewesen war.
Selbst die Straßennamen erinnerten an die Niederlande. Es gab die Oranje Straat, Watermolenstraat und die Keizerstraat, auf der sie nun in die Stadt hineinfuhren.
Überall herrschte ein buntes Durcheinander. Kleine Geschäfte hatten ihre Tresen zur Straße hin geöffnet. Menschen von hellbrauner bis tiefschwarzer Hautfarbe gingen geschäftig ihrem Treiben nach. Frauen, in bunte Kleider und Tücher gehüllt, trugen große Körbe mit Früchten auf den Köpfen, Männer schoben Handkarren mit Sackwaren. Größere Wagen mit langohrigen, struppigen Eseln oder Maultieren warteten am Straßenrand. Kinder tollten umher. Und alle machten sie achtsam dem Wagen der Weißen Platz – die schienen in diesem Land nicht zu Fuß zu gehen. Kurze Zeit später kam die Droschke vor einem Haus zum Stehen.
»Wir sind da.«
Karl half Julie beim Aussteigen. Erwartungsvoll beäugte sie das Haus. Es war zweistöckig und weiß gestrichen, mit grünen Fensterläden. Der Eingang lag auf einer schmalen, überdachten Veranda, auf die man über eine seitliche Treppe gelangte. Über der Veranda erstreckte sich, von Holzsäulen getragen, wiederum ein ebenso schmaler Balkon. Links neben dem Haus befand sich ein großes Holztor, das vermutlich den Zugang zum Hinterhof bildete. Durch eine kleine Tür in diesem Tor schlüpften nun die Sklaven mit dem Gepäck.
Karl schritt voran und stand bereits oben vor der Eingangstür. »Was ist? Kommst du?«, fragte er ungeduldig. Als er bemerkte, dass Julie den schwarzen Burschen hinterhersah, murrte er: »Das ist die Negerpforte. Nun komm.«
Julie eilte die Stufen zur Veranda hinauf und durch die geöffnete Eingangstür.
»Masra Leevken.« Eine füllige kleine Sklavin, tadellos mit einem sauber gestärkten weißen Kopftuch und ebensolcher Schürze gekleidet, begrüßte Karl in der kleinen Eingangshalle.
»Foni«, er übergab der Sklavin seine Jacke und nickte mit dem Kopf in Richtung Julie, »das ist meine neue Frau, Juliette.«
»Misi.« Foni senkte sofort den Blick.
Julie nickte ihr freundlich zu.
Aiku kam nun aus einer Tür im hinteren Bereich des Hauses. In den Händen hielt er ein Tablett mit einer Karaffe und einem Glas, das er füllte und Karl reichte.
Julie hatte schon wieder Mitleid mit dem Sklaven. Ließ Karl ihm denn gar keine Gelegenheit, sich von der strapaziösen Reise zu erholen?
Karl jedoch leerte das Glas in einem Zug und stellte es zurück auf das Tablett. »Foni, richte das Essen an, wir haben Hunger nach der Reise.«
Foni nickte und watschelte mit behäbigen Schritten durch eine Tür in den hinteren Bereich des Hauses.
»Juliette ...« Karl geleitete Julie in ein Nebenzimmer, einen kleinen, behaglichen Salon. Julie bewunderte kurz die erlesene Einrichtung des Zimmers: zierliche Möbel und geschmackvolle Stoffe. Karl setzte sich in einen der ledernen Sessel und nahm das von Aiku sofort gereichte Glas in Empfang.
»Etwas zu trinken für die Misi«, sagte er knapp. Sogleich eilte der Sklave aus dem Raum. »Setz dich, Juliette.«
Weitere Kostenlose Bücher