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Im Land der Regenbogenschlange

Im Land der Regenbogenschlange

Titel: Im Land der Regenbogenschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Altmann Andreas
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Mobilität. An keine Steckdose muss ein Buch angeschlossen werden, ohne Fernbedienung kann man es öffnen, nie stört ein Rauschen oder verdächtiges Surren. Es ist da, allzeit bereit.
    Doch ich lese nicht eine Seite, die es mit der Sendung aufnehmen könnte, auf die ich zufällig am frühen Nachmittag im Radio stoße. Eine Journalistin spricht mit Helen Prejean. Ich bin sofort hellwach, als ich erfahre, dass sie die Autorin des Buches Dead man walking ist, die Grundlage des gleichnamigen, mit Sean Penn und Susan Sarandon gedrehten Films. Die Geschichte eines wegen zweifachen Mordes verurteilten und auf dem elektrischen Stuhl hingerichteten Mannes. Wer den Streifen gesehen hat, ging nicht tot, aber halbtot nach Hause.
    Miss Prejean ist eine katholische Nonne, die 1939 in Louisiana geboren wurde und seit über zwanzig Jahren ihre Energie in den Kampf gegen die Todesstrafe investiert und gleichzeitig den wahren Tätern, den vermeintlichen Tätern, den Angehörigen der Opfer beisteht. Kein Balsam in ihrer Stimme, kein Erlöserton, keine Ergriffenheit über das eigene Tun. Erzählt, wie sie Männer zur Hinrichtung »begleitete«, spricht über die von bodenloser Trauer zerstörten Eltern eines ermordeten Kindes, über deren bodenlosen Hass und seligsten Wunsch, selbst Henker zu sein und »den Hebel zu ziehen«. Sagt, dass sie jede Regung versteht, auch die Raserei der Rache. Aber dass auch die tausendste Befriedigung der Vergeltung nicht helfen wird, mit dem Verlust fertig zu werden, dass auch das hundertste Abspielen des Exekutions-Videos den geliebten Toten nicht zurückbringen wird. Der Platz, auf dem er saß, und das Bett, in dem er schlief, bleiben leer. Sie, die weiterleben, müssen eine »spirituelle Reise« antreten, müssen in einen Bewusstseinszustand reisen, der sie irgendwann dazu befähigt, den Tod des anderen zu akzeptieren, und – die nächste Reise, die noch unglaublichere – dem Urheber der Pein zu verzeihen. Das Außergewöhnliche an diesem Gespräch ist Helen Prejeans Weigerung, die Zuhörer mit Verprechen auf göttliche Belohnungen zu nerven. Sie bleibt durchgehend irdisch, alles, was sie anbietet, ist weltlich, ist immer eine Geschichte über uns.
    Das ist das Grandiose an der Liebe. Seit Millionen Jahren kommt sie ganz ohne Gott aus, auch ohne Glauben, ja ohne jede Weltanschauung. Sie ist rabiat eigensinnig. Sie ist .
    Das kleine Mädchen, das von den sieben Weltwundern – sehen, hören, fühlen, berühren, schmecken, lieben, lachen – sprach, hat eines vergessen, das achte: bewundern, ja noch eins, das neunte: beneiden. (Jemanden um etwas beneiden, was für ein Kompliment, ja oft nur ein Synonym für bewundern.)
    Vielleicht muss ein Reisender, öfter als andere, von Frauen wie Sister Helen erfahren. Weil er gefährdeter ist, unsicherer, in weniger vertrauter Umgebung sich bewegt. Sobald er von ihnen weiß, stellt er sie in seinem Olymp auf. Als lästige Mahner, als Beneidenswerte, die ihm vormachen, was an Reichtum und Tiefe möglich ist.
    In Perth einchecken. Bei der Gepäckkontrolle stehen 18-Jährige, die der Welt gerne ein Drittel ihres Hinterns zeigen. Nicht bei allen unbedingt zeigenswert. Hinter mir Frauen, die mit schwarzen Kartoffelsäcken ihre Körper und Gesichter verhängen. Ich würde gern wissen, wessen Hirne – entweder vom Gekreisch vulgärer Werbung oder vom Blabla »göttlicher Überlieferung« – intensiver manipuliert wurden.
    Das wird eine besondere Nacht. Nach dreieinhalb Stunden Flug um 1 Uhr früh ankommen, um 2 Uhr 20 endlich auf der Kings Street nach meiner Absteige suchen. Das muss die wöchentliche Saufnacht in Melbourne sein, denn die derbsten Weiber – fett, laut, kotzend – der westlichen Hemisphäre torkeln über den Bürgersteig. Tatsächlich kaum Männer zu sichten. Wohl irgendwo als Bierleichen auf der Strecke geblieben.
    Ich finde meine Unterkunft, läute. Wie bei Backpackers nicht anders zu erwarten, öffnet niemand. Trotz des Hinweises auf einen 24-Stunden-Service bei meiner (zweimaligen) telefonischen Reservierung. Ich suche einen öffentlichen Apparat, um die neben die Tür geklebte Mobil-Nummer anzurufen, »in the case that nobody opens«. Aber keiner hebt ab. Wieder zurück, wieder läuten, warten, hämmern. Bis ein Gast herauskommt und verspricht, die zuständige

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