Im Land der Regenbogenschlange
junges Paar zu besuchen. Ich wähle die aus Europa mitgebrachte Telefonnummer, um ein Treffen zu vereinbaren. Ich habe die beiden nie gesehen, nur über gemeinsame Freunde von ihnen gehört. Die zwei wären ausgesprochen neugierig, hieà es. Und Neugierige machen neugierig. Und wieder beginnt das leichte australische Leben. Eine Stunde später steige ich in Fernygrove aus, einem Vorstadtbahnhof, wo Robbie bereits wartet. Ein paar Ecken weiter steht das Vorstadthaus. Aus Holz, flach, leicht, eher provisorisch. Und Robbie, um die dreiÃig, stellt mich seiner Frau Jules vor. Pretty Woman, frisch, keine Hausfrau, die mit Inbrunst und Krampfadern in der Küche hantiert, um dem Gatten zu dienen. Die beiden haben den Swing, kein mürber Eheton, eher witzig und ironisch. Beide jobben.
Sie bitten mich auf den Balkon, holen die groÃe Colaflasche und den Scotch. Und fangen nach einem halben Glas zu beichten an. Das ordentliche Leben stinkt ihnen, sie haben es satt, sie wollen abhauen. Sie wollen nicht enden wie ihre Nachbarn. Alle Nachbarn in der StraÃe. Das Grauen sucht sie heim, wenn sie anderen â Männern und Frauen wie sie, nur 25 Jahre älter â beim »daily grind« zuschauen. Und sich in ihnen wiedererkennen und die Vorstellung nicht aushalten, so zu werden wie jene. Sie wollen nicht vergrinden, sie wollen davon, wollen vom Leben und der Welt überrascht, ja â so poetisch nennen sie es â ȟberwältigt werden«. Die Vorstellung betäubt sie, den Rest ihres Daseins in dieser Baracke zu verbringen, um tagsüber beim Rattenrennen mitzuhecheln, abends in die Flimmerkiste zu stieren und nachts im Bett an ihre Träume zu denken, für die sie am nächsten Tag keine Kraft haben. Weil das verdammte Geld fehlt oder das verdammte Talent oder die eine, die wahnsinnige Idee, um nie mehr an Geld denken zu müssen. Und Robbie und Jules sagen, dass sie anders sind und dass das Volk, der groÃe schweigende Haufen, jene leise brüllende Stimme im Kopf nicht hört, die zur Welt verführen will und 24 Stunden daran erinnert, das irgendetwas unheimlich falsch läuft.
Da widerspreche ich zum ersten Mal. Ich bin mir nicht sicher, ob jene, die sich zum Sterben (bei lebendigem Leib) ein Reihenhäuschen, zwei Hypotheken, drei Lebensversicherungen, vier Handys, zweihundert Kanäle und viele Ausreden zugelegt haben, ob die nicht auch dieses lästige Gewissen vernehmen, das sie zwingt, an früher zu denken, an damals, als sie jung und strotzend waren und sich nach einer ganz anderen Zukunft sehnten. Aber die Trägerrakete Jugend, dieses Kraftwerk, um die Welt zu erstürmen, verglühte beizeiten, und sie, die Ex-Träumer, landeten auf der groÃen Umlaufbahn namens Routine, Kleinmut und â David Thoreau hat den Ausdruck geprägt â »quiet desperation«, leiser Verzweiflung.
Doch Robbie und Jules sind noch nicht so weit, sie sind noch nicht leise, wollen sich noch nicht fügen. Es nagt in ihnen und das muss aufhören. Sie führen mich durch den Bungalow, zeigen auf den vielen Trödel, den sie die Jahre über angesammelt haben und der jetzt weg muss. Dann wären sie frei und würden zu reisen anfangen. Seltsamerweise ist er noch nicht weg. Schon möglich, dass sie ihre guten Vorsätze schon anderen erzählt haben. Es gibt diese Ankündigungskünstler, die rastlos Pläne schmieden und sie garantiert nicht ausführen. Das Schmieden soll reichen.
Ich begreife bald, dass sie mich nicht ohne Hintergedanken eingeladen haben. Ãber die Freunde in Deutschland wissen sie, dass ich schreibe, dass ich, was für ein dämliches Wort, ein travel writer bin. Und genau das planen auch sie. Von Erdteil zu Erdteil zu hüpfen und hinterher Bücher zu veröffentlichen. Ich weiÃ, was jetzt kommt, es kommt (von Jules) der Vorschlag, einen Blick in ihr Tagebuch der letzten Reise zu werfen. Ich lese an und grinse, das ist gut, das hat Witz, man weià gleich, dass man jetzt nicht notlügen muss, um die Wahrheit (die Talentlosigkeit) zu verheimlichen. So bin ich guten Willens und rede ihr zu: Eine Mappe mit Texten zusammenzustellen, per Internet die Adressen einschlägiger Magazine und Zeitungen zu suchen, sie anzurufen, sie zu bedrängen, zudem muss sie ab sofort jeden Tag eine Tonne bedrucktes Papier lesen, jeden Tag Englisch lernen, sprich, ihren Wortschatz erweitern, und ab morgen früh ihr Leben auf das
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