Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der weissen Rose

Im Land der weissen Rose

Titel: Im Land der weissen Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
Vom Netzwerk:
aber darüber, dass Gerald oft zu betrunken war, um
rasch komplexe Entscheidungen zu treffen, wurde nicht gesprochen.
Stattdessen wandten die Arbeiter sich einfach an Gwyn, wenn es ihnen
nicht geraten schien, den Herrn des Anwesens anzusprechen, und
erhielten dann klare Anweisungen. Im Grunde hatte Gwyneira damit
ihren Frieden mit ihrem Dasein und vor allem mit Gerald gemacht.
Insbesondere seit sie seine und Howards Geschichte kannte, konnte sie
ihn nicht mehr so abgrundtief hassen wie in den ersten Jahren nach
Pauls Geburt. Ihr war längst klar, dass er Barbara Butler nie
geliebt hatte. Ihre Ansprüche, ihre Vorstellung vom Leben in
einem Herrenhaus und der Erziehung ihres Sohnes zum Gentleman mochten
ihn zwar fasziniert haben – aber letztlich sicher auch
entmutigt. Gerald fehlte das Naturell eines Landedelmanns; er war ein
Spieler, Haudegen und Glücksritter – und durchaus auch ein
fähiger Farmer und Geschäftsmann. Der rücksichtsvolle
»Gentleman«, mit dem Barbara eine Vernunftehe führte,
nachdem sie ihrer wirklichen Liebe entsagen musste, war er nie und
wollte er auch niemals sein. Die Begegnung mit Gwyneira musste ihm
dann vor Augen geführt haben, nach welcher Frau er sich wirklich
sehnte – und zweifellos hatte es ihn zur Weißglut
getrieben, dass Lucas nichts mit ihr anzufangen wusste. Gwyneira war
sich inzwischen sicher, dass Gerald etwas wie Liebe für sie
empfunden haben musste, als er sie nach Kiward Station holte, und
dass sich in jener furchtbaren Dezembernacht nicht nur sein Ärger
über Lucas’ Unfähigkeit entladen hatte, sondern auch
der jahrelange Zwang, für die Frau, die er begehrte, nichts als
ein »Vater« zu sein.
    Inzwischen war Gwyn sich auch sicher, dass Gerald sein damaliges
Vorgehen bereute, auch wenn nie ein Wort der Entschuldigung über
seine Lippen kam. Sein immer unmäßigeres Trinken, seine
Zurückhaltung und Nachsicht ihr gegenüber – und Paul
gegenüber – sprachen für sich.
    Nun hob sie den Kopf von Papieren, die Schafzucht betreffend, und
sah auf, als ihr Sohn hereinstürmte.
    Â»Hallo, Paul! Was hast du es denn so eilig?«, fragte
sie lächelnd. Dabei fiel es ihr wie immer schwer, sich
rückhaltlos über Pauls Heimkehr zu freuen. Ihr
Friedensschluss mit Gerald war eine Sache, die Angelegenheit mit Paul
eine andere. Sie schaffte es einfach nicht, den Jungen zu lieben.
Nicht so,wie sie Fleur liebte, so selbstverständlich und
bedingungslos. Wenn sie Paul gegenüber etwas empfinden wollte,
musste sie stets ihren Verstand einschalten: Er sah gut aus mit
seinem dunkelrot-braunen Wuschelhaar – Gwyneira hatte ihm nur
die Farbe, nicht die Struktur vererbt. Statt Kräusellöckchen
hatte sein Schopf die Fülle, die Geralds Haar auch heute noch
auszeichnete. Sein Gesicht erinnerte an Lucas, allerdings hatte er
entschlossenere, weniger weiche Züge, und die braunen Augen
blickten klar und oft hart, nicht sanft und verträumt wie die
seines Halbbruders. Er war klug, doch Pauls Begabungen lagen eher im
mathematischen als im künstlerischen Bereich. Er würde
sicher einmal ein guter Kaufmann. Und er war geschickt. Gerald hätte
sich keinen besseren Erben für die Farm wünschen können.
Gwyneira fand allerdings, dass es dem Jungen manchmal an Gefühl
für die Tiere und vor allem die Menschen auf Kiward Station
mangelte – wobei sie sich dieser Empfindungen schon wieder
schalt. Sie wollte das Gute an Paul sehen, wollte ihn lieben, doch
wenn sie ihn ansah, empfand sie nicht mehr, als sie beispielsweise
für Tonga empfand: Ein netter Junge, klug und seinen späteren
Aufgaben sicher gewachsen. Aber es war nicht die tiefe,
herzzerreißende Liebe, die sie Fleurette entgegenbrachte.
    Sie hoffte nur, dass Paul diesen Mangel nicht bemerkte,und bemühte
sich stets, besonders freundlich und langmütig zu sein.Auch
jetzt verzieh sie ihm bereitwillig, dass er ohne Gruß an ihr
vorbeiwollte.
    Â»Ist etwas passiert, Paul?«, fragte sie besorgt.
»Hattest du Ärger in der Schule?« Gwyn wusste, dass
Helen es nicht immer leicht mit Paul hatte, und kannte auch seine
dauernde Rivalität mit Ruben und Tonga.
    Â»Nein, nichts. Ich muss Großvater sprechen, Mom. Wo
kann er sein?« Paul hielt sich nicht mit Höflichkeiten
auf.
    Gwyn sah auf die große Standuhr, die eine Wand des
Arbeitszimmers beherrschte. Noch eine Stunde bis

Weitere Kostenlose Bücher