Im Land der weissen Rose
zum
Abendessen.Gerald dürfte also mit dem Aperitif begonnen haben.
»Da, wo er um diese Zeit immer ist«, bemerkte sie. »Im
Salon. Und du weißt wohl, dass man ihn in dieser Stunde besser
nicht anspricht. Vor allem nicht, wenn man ungewaschen und ungekämmt
ist wie du. Wenn du meinen Rat hören willst: Geh erst in dein
Zimmer,und zieh dich um, bevor du ihm vor Augen trittst.«
Zwar nahm Gerald selbst das Umziehen vor dem Abendessen längst
nicht mehr sonderlich ernst, und auch Gwyneira pflegte ihre Kleidung
nur zu wechseln, wenn sie aus dem Stall kam. Das Nachmittagskleid,
das sie heute trug, würde sie auch zum Essen anbehalten.Aber bei
den Kindern konnte Gerald streng sein – genauer gesagt suchte
er um diese Zeit des Tages nur einen Grund, mit irgendjemandem zu
zanken. Dabei war die Stunde vor dem gemeinsamen Abendessen deutlich
die gefährlichste. Wenn erst mal serviert wurde, war Geralds
Alkoholpegel gewöhnlich auf einem Stand, der keine größeren
Ausbrüche mehr möglich machte.
Paul überschlug kurz seine Möglichkeiten. Wenn er jetzt
gleich mit der Neuigkeit zu Gerald ging, würde der zwar
explodieren – doch in Abwesenheit des »Opfers«
hatte das keine große Wirkung. Es wäre deutlich besser,
Fleur von Angesicht zu Angesicht zu verpfeifen; dann war die Chance
auch größer, dass er, Paul, jede Kleinigkeit der
nachfolgenden Auseinandersetzung mitbekam.Außerdem hatte seine
Mutter Recht: Wenn Gerald wirklich schlecht gelaunt war, ließ
er ihn vielleicht gar nicht erst dazu kommen, seine Neuigkeiten
loszuwerden, sondern entlud seinen Zorn gleich auf Paul.
Der Junge entschied sich deshalb tatsächlich dafür,
zunächst in sein Zimmer zu gehen. Er würde ordentlich
gekleidet zum Essen erscheinen, während Fleur garantiert zu spät
kam – und dann auch noch in Reitzeug. Dann würde er sie
zuerst ihre Entschuldigung stammeln und anschließend die Bombe
platzen lassen! Selbstzufrieden stieg Paul die Treppe hinauf. Er
bewohnte das frühere Zimmer seines Vaters, das heute nicht mehr
mit Zeichenutensilien und Büchern, sondern mit Spielzeug und
Angelzeug voll gestopft war. Der Junge zog sich sorgfältig um.
Er war voller Vorfreude.
Fleurette hatte nicht zu viel versprochen. Ihre Hündin Gracie
sammelte die versprengten Schafe tatsächlich blitzschnell ein,
als Ruben und das Mädchen sie erst gefunden hatten.Aber auch das
erwies sich nicht als schwierig. Die jungen Widder strebten ins
Hochland, zu den Weidegründen der Mutterschafe. Flankiert von
Gracie und Minette wandten sie sich jedoch bereitwillig zurück
Richtung Farm. Gracie verstand keinen Spaß und trieb Ausbrecher
rasch wieder zur Herde. Zudem war die Gruppe klein und übersichtlich.
So konnte Fleurette das Gatter des Paddocks lange vor Dunkelwerden
hinter den Tieren schließen – und vor allem lange bevor
Howard aus dem Vorwerk zurückkam, wo er sich um seine letzten
Rinder kümmerte. Die Tiere sollten nun endlich verkauft werden,
nachdem Howard sich gegen George Greenwoods Rat endlos an die
Rinderzucht als zweites Standbein geklammert hatte. O’Keefe
Station bot kein geeignetes Land für Rinder; hier konnten nur
Schafe und Ziegen gedeihen.
Fleurette sah nach dem Stand der Sonne. Es war noch nicht
spät,aber wenn sie Ruben jetzt tatsächlich wie versprochen
bei der Zaunreparatur half, kam sie nicht rechtzeitig zum Abendessen.
Nun war das weiter nicht schlimm – ihr Großvater verzog
sich nach der Mahlzeit meist bald mit einem letzten Whiskey in seine
Räume, und ihre Mutter und Kiri würden ihr sicher noch
etwas zu essen aufbewahren. Doch Fleur hasste es, dem Personal mehr
Arbeit zu machen als nötig.Außerdem lag ihr nichts daran,
womöglich noch Howard in die Arme zu laufen und dann –
Gipfel des Schreckens! – mitten während der Abendmahlzeit
zu Hause hereinzuplatzen.Andererseits konnte sie Ruben mit dem Zaun
kaum allein lassen. Dann waren die Widder am nächsten Tag
garantiert wieder im Hochland.
Zu Fleurettes Erleichterung näherte sich jetzt Rubens Mutter
– mit ihrem braven Maultier, das sie bereits mit Werkzeug und
Zaunmaterial beladen hatte.
Helen zwinkerte ihr zu. »Reite ruhig nach Hause, Fleur, wir
machen das hier schon«, sagte sie freundlich. »Es war
sehr nett, dass du Ruben geholfen hast, die Schafe zurückzubringen.
Da hast du es wirklich nicht
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