Im Land der weissen Rose
esein ganz normaler Tag, und Fleur hätte nur die
Zeit für die Schule verschlafen. »Jetzt zieh dich an, aber
schnell. Im Pferdestall ist jemand für dich. Und der kann ganz
sicher nicht ewig warten.«
Sie lächelte ihrer Tochter verschwörerisch zu.
»Da ist jemand, Mummy!« Fleurette sprang auf. »Wer?
Ist es Ruben? Oh, wenn es Ruben ist, wenn er lebt ...«
»Natürlich lebt er, Fleurette. Dein Großvater ist
ein Mann, der rasch wilde Drohungen ausstößt und schnell
die Fäuste gebraucht. Aber er bringt doch niemanden um!
Zumindest nicht gleich – wenn er den Jungen jetzt bei uns in
der Scheune antrifft, garantiere ich für nichts mehr.«
Gwyneira half Fleur, rasch in ein Reitkleid zu schlüpfen.
»Du passtaber auf, dass er nicht kommt, ja? Und Paul ...«
Fleurette schien sich vor ihrem Bruder fast ebenso zu fürchten
wie vor ihrem Großvater. »Er ist ein solcher Mistkerl! Du
glaubst doch nicht wirklich, dass wir ...«
»Ich halte den Jungen für viel zu intelligent, als dass
er das Risiko eingeht, dich zu schwängern«, sagte Gwyneira
nüchtern. »Und du, Fleurette, bist genauso klug wie er.
Ruben will zum Studieren nach Dunedin, und du musst noch ein paar
Jahre älter werden, bevor an eine Ehe auch nur zu denken ist.
Und dann sind die Chancen für einen jungen Anwalt, der
möglicherweise in der Firma von George Greenwood arbeitet, viel
größer als für einen Farmjungen, dessen Vater von der
Hand in den Mund lebt. Behalt das auch heute Morgen imAuge, wenn du
den Jungen triffst. Obwohl ... nach dem, was McAran so erzählt
hat, ist der heute kaum in der Lage, jemanden zu schwängern ...«
Gwyneiras letzte Bemerkung nährte wieder einmal Fleurs
schlimmste Befürchtungen. Statt ihren Wachsmantel zu suchen –
draußen regnete es in Strömen –, warf sie sich nur
hastig ein Tuch über die Schultern und eilte dann die Treppen
hinunter. Ihr Haar hatte sie auch nicht gebürstet. Das zu
entwirren hätte wahrscheinlich Stunden gedauert. Gewöhnlich
pflegte sie es abends zu kämmen und zu flechten, aber gestern
hatte sie nicht die Energie dazu aufgebracht. Nun wallte es ziemlich
wild um ihr schmales Gesicht, doch Ruben O’Keefe erschien sie
dennoch als das schönste Mädchen, das er jemals gesehen
hatte. Fleurette dagegen war eher entsetzt vomAnblick ihres
Freundes.Der Junge lag mehr als er saß auf einem Stapel Heu.
Nach wie vor schmerzte ihn jede Bewegung. Sein Gesicht war
verschwollen, ein Auge ganz geschlossen, und die Platzwunden nässten
noch.
»Oh Gott, Ruben! War das mein Großvater?«
Fleurette wollte ihn umarmen, doch Ruben wehrte sie ab.
»Vorsicht«, ächzte er. »Meine Rippen ...
ich weiß nicht, ob sie gebrochen oder nur geprellt sind ...
jedenfalls tut es höllisch weh.«
Fleurette umfasste ihn sanfter. Sie glitt neben ihn und bettete
sein zerschundenes Gesicht an ihre Schulter.
»Der Teufel soll ihn holen!«, schimpfte sie. »Von
wegen, er bringt niemanden um! Bei dir wäre es ihm fast
gelungen!«
Ruben schüttelte den Kopf. »Es war nicht Mr. Warden. Es
war mein Vater. Und beinahe hätten sie’s in schönster
Eintracht zusammen gemacht! Die beiden sind sich ja spinnefeind, aber
was uns angeht, besteht völlige Übereinstimmung. Ich gehe
weg, Fleur. Ich halte das nicht mehr aus!«
Fleurette sah ihn fassungslos an. »Du gehst weg? Du verlässt
mich?«
»Soll ich hier warten, bis sie uns beide umbringen? Wir
können uns doch nicht in alle Ewigkeit heimlich treffen –
erst recht nicht mit dem kleinen Spitzel, den du da im Haus hast. Es
war doch Paul, der uns verraten hat, oder?«
Fleur nickte. »Und er wird’s immer wieder tun.Aber du
... du kannst nicht ohne mich weggehen! Ich komme mit!«
Entschlossen straffte sie sich und schien in Gedanken bereits ihre
Sachen zu packen. »Du wartest hier, ich brauche nicht viel. In
einer Stunde können wir fort sein!«
»Ach, Fleur, das geht doch nicht.Aber ich verlasse dich auch
nicht. Ich denke in jeder Minute, jeder Sekunde an dich. Ich liebe
dich.Aber ich kann dich auf keinen Fall mit nach Otago nehmen ...«
Ruben streichelte sie mit ungeschickten Bewegungen, während
Fleur fieberhaft nachdachte. Wenn sie mit ihm fliehen wollte, lief
das auf einen Gewaltritt hinaus – Gerald würde ihnen
zweifellos einen Suchtrupp
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