Im Land der weissen Rose
anderen.«
Mrs. Thorne nickte. »Vielleicht steuert Gott die Dinge
wirklich in Ihrem Sinne, Kind«, sagte sie sanft. »Mein
Gatte hätte Ihnen nämlich einen Vorschlag zu machen.«
Helen wusste nicht, ob sie vor Freude tanzen oder aus Angst vor
der eigenen Courage die Schultern einziehen sollte, als sie die
Thornes eine Stunde später verließ und den Weg zu den
Greenwoods einschlug. Tief in ihrem Innern brodelte es vor Aufregung,
denn eins stand nun fest: Zurück konnte sie nicht mehr. In
ungefähr acht Wochen ging ihr Schiff nach Neuseeland.
»Es geht um die Waisenmädchen, die Mrs. Greenwood und
ihr Komitee unbedingt nach Übersee schicken wollen.« Helen
hatte Reverend Thornes Erklärung noch wörtlich im Sinn. »Es
sind halbe Kinder – das älteste dreizehn, das jüngste
gerade mal elf. Die Mädchen fürchten sich schon halb zu
Tode, wenn sie nur daran denken, hier in London eine Stelle
anzutreten. Und nun sollen sie gar nach Neuseeland verschickt werden,
zu wildfremden Leuten!Außerdem haben die Jungs im Waisenhaus
natürlich nichts Besseres zu tun, als die armen Mädchen zu
necken. Sie reden den ganzen Tag von Schiffsuntergängen und
Piraten, die Kinder verschleppen. Die Kleinste ist fest davon
überzeugt, demnächst im Magen irgendwelcher Kannibalen zu
landen, und die Größte spinnt davon, dass man sie als
Gespielin eines Sultans in den Orient verkaufen könnte.«
Helen lachte, aber die Thornes blieben ernst.
»Auch wir finden das komisch, aber die Mädchen glauben
daran«, sagte Mrs. Thorne seufzend. »Mal ganz abgesehen
davon, dass die Ãœberfahrt alles andere als gefahrlos ist. Die
Route nach Neuseeland wird nach wie vor ausschließlich von
Segelschiffen befahren, weil die Strecke für Dampfer zu weit
ist.Also ist man auf günstigen Wind angewiesen, es kann zu
Meutereien kommen, zu Bränden, Epidemien ... Ich kann sehr gut
verstehen, dass die Kinder sich fürchten. Sie steigern sich mit
jedem Tag, den die Abreise näher rückt, mehr in ihre
Hysterie hinein. Die Älteste hat schon um die letzte Ölung
vor der Abreise gebeten. Die Damen vom Komitee bekommen natürlich
nichts davon mit. Die wissen gar nicht, was sie den Kindern antun.
Ich hingegen weiß es, und es belastet mein Gewissen.«
Der Reverend nickte. »Meines nicht minder. Deshalb habe ich
den Damen ein Ultimatum gestellt. Das Heim gehört de facto der
Gemeinde, das heißt, nominell bin ich der Vorsteher. Die Damen
brauchen also meine Zustimmung, um die Kinder zu verschicken. Diese
Zustimmung habe ich davon abhängig gemacht, eine Aufsichtsperson
mitzuschicken. Und da kommen Sie ins Spiel, Helen. Ich habe den Damen
vorgeschlagen, eine der heiratswilligen jungen Frauen, die
Christchurch ja auch anfordert, auf Gemeindekosten reisen zu lassen.
Dafür übernimmt die betreffende junge Dame die Betreuung
der Mädchen. Eine entsprechende Spende ist schon eingegangen,
der Betrag wäre gesichert.«
Mrs. Thorne und der Reverend blickten Helen Beifall heischend an.
Helen dachte an Mr. Greenwood, der schon vor Wochen eine ähnliche
Idee gehabt hatte, und fragte sich, wer wohl der Spender war. Aber
letztlich war das egal.Andere Fragen erschienen ihr erheblich
drängender!
»Und diese Betreuerin soll ich sein?«, meinte sie
unschlüssig. »Aber ich ... wie gesagt, ich habe noch
nichts von Mr. O’Keefe gehört...«
»Das geht den anderen Bewerberinnen nicht anders, Helen«,
bemerkte Mrs. Thorne. »Außerdem sind fast alle blutjung,
kaum älter als ihre kleinen Zöglinge. Erfahrung mit Kindern
hat höchstens eine, die angeblich als Nanny arbeitet. Wobei ich
mich frage, welche gute Familie eine kaum Zwanzigjährige als
Kinderfrau beschäftigt! Überhaupt erscheinen mir einige
dieser Mädchen von ... nun, eher zweifelhaftem Ruf. Lady Brennan
ist sich auch noch keineswegs schlüssig, ob sie allen
Bewerberinnen ihren Segen erteilt. Sie dagegen sind eine gefestigte
Persönlichkeit. Ich habe keinerlei Bedenken, Ihnen die Kinder
anzuvertrauen. Und das Risiko ist gering. Selbst wenn es zu keiner
Eheschließung kommt – eine junge Frau mit Ihren
Qualifikationen wird sofort eine neue Stellung finden.«
»Sie würden zunächst bei meinem Amtsbruder in
Christchurch Unterkunft finden«, erklärte Reverend Thorne.
»Ich bin sicher, er kann Ihnen zu einer Anstellung in
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