Im Land der weissen Rose
Daphnes
ungebärdige rote Strähnen umrahmten ihr Gesicht, als wäre
es in Flammen gehüllt. Und auch ihre Augen sprühten Funken,
als sie die reich gedeckte Tafel des Reverends mit einem Blick
erfasste. Helen wurde sofort von Gewissensbissen gequält.
Daphnes Ausdruck nach zu urteilen, hatte man den Mädchen noch
nichts zu essen gegeben.
Aber jetzt hatten die beiden offensichtlich andere Sorgen.
Rosemary rannte auf Helen zu und zerrte an ihrem Rock. »Miss
Helen,Miss Helen, sie holen Laurie weg! Bitte, Sie müssen was
tun! Mary schreit und weint und Laurie auch!«
»Und Elizabeth wollen sie auch holen!«, jammerte
Daphne. »Bitte, Miss Helen, tun Sie was!«
Helen sprang auf. Wenn die sonst so gelassene Daphne derart
alarmiert wirkte, musste etwas Schreckliches vorgefallen sein.
Argwöhnisch blickte sie in die Runde.
»Was geht da vor?«, erkundigte sie sich.
Mrs. Baldwin verdrehte die Augen. »Nichts, Miss Davenport.
Ich hatte Ihnen doch gesagt, wir könnten zwei der künftigen
Dienstherren der Waisenkinder heute noch erreichen. Nun sind sie da,
um die Mädchen abzuholen.« Sie zog einen Zettel aus der
Tasche. »Hier: Laurie Alliston geht zu den Lavenders und
Elizabeth Beans zu Mrs. Godewind. Das ist alles ganz richtig. Ich
verstehe gar nicht, warum solch ein Lärm darum gemacht wird.«
Strafend blickte sie Daphne und Rosemary an. Die Kleine weinte.
Daphne hingegen erwiderte den Blick mit flammenden Augen.
»Laurie und Mary sind Zwillinge«, erklärte Helen.
Sie war wütend, zwang sich aber, ruhig zu bleiben. »Sie
wurden noch nie getrennt. Ich verstehe nicht, wie man sie in
verschiedenen Familien unterbringen kann! Da muss ein Fehler
vorliegen. Und Elizabeth möchte sicher auch nicht gehen, ohne
sich zu verabschieden. Bitte, kommen Sie mit, Reverend, und klären
Sie das!« Helen beschloss, sich nicht länger mit der
kaltherzigen Mrs. Baldwin aufzuhalten.Die Kinder fielen in den
Aufgabenbereich des Reverends, also sollte er sich jetzt gefälligst
darum kümmern.
Der Pfarrer erhob sich schließlich, wenn auch sichtlich
unwillig.
»Niemand hat uns das mit den Zwillingen gesagt«,
erklärte er, als er bedächtig neben Helen zum Stall
schritt. »Natürlich lag es nahe, dass die Mädchen
Schwestern sind, aber es ist gänzlich unmöglich, sie im
gleichen Haushalt unterzubringen. Hier gibt es kaum englische
Dienstboten. Für diese Mädchen gibt es eine Warteliste. Wir
können nicht einer Familie zwei Mädchen geben.«
»Aber eine allein wird den Leuten nichts nützen, die
Kinder kleben wie die Kletten aneinander!«, gab Helen zu
bedenken.
»Sie werden sich voneinander lösen müssen«,
erwiderte der Reverend knapp.
Vor dem Stall warteten zwei Fahrzeuge, eines davon ein
Lieferwagen, vor dem zwei schwere Braune gelangweilt warteten. Den
anderen Wagen, einen eleganten, schwarzen Einspänner, zog ein
lebhaftes Pony, das kaum stillstehen mochte. Ein großer,
hagerer Mann hielt es mit leichter Hand am Zügel und brummte ihm
gelegentlich beruhigende Worte zu.Allerdings wirkte auch er
aufgebracht. Kopfschüttelnd blickte er immer wieder zum Stall,
in dem das Weinen und Klagen der Mädchen nicht abriss. Helen
meinte Mitleid in seinem Blick zu erkennen.
In den Polstern der kleinen Chaise residierte eine zierliche
ältere Dame. Sie war schwarz gekleidet, wozu ihr schneeweißes,
ordentlich unter einer Haube aufgestecktes Haar einen interessanten
Kontrast bildete. Auch ihr Teint war sehr hell, porzellanklar und nur
von winzigen Falten durchzogen wie alte Seide. Vor ihr stand
Elizabeth und knickste artig. Die alte Dame schien sich freundlich
und huldvoll mit dem Mädchen zu unterhalten. Nur ab und zu
blickten die beiden irritiert und bedauernd zum Stall hinüber.
»Jones«, sagte die Lady schließlich zu ihrem
Fahrer, als Helen und der Reverend vorbeikamen. »Können
Sie nicht hineingehen und das Gejammer abstellen? Es stört uns
doch sehr. Diese Kinder weinen sich ja die Augen aus! Finden Sie doch
bitte heraus, um was es geht, und lösen Sie das Problem.«
Der Fahrer fixierte die Zügel am Bock und stand auf.Allzu
begeistert wirkte er nicht. Wahrscheinlich gehörte das Trösten
weinender Kinder nicht zu seinen üblichen Aufgaben.
Die alte Lady hatte inzwischen Reverend Baldwin bemerkt und grüßte
freundlich.
»Guten Abend, Reverend! Schön, Sie zu
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