Im Land der weissen Rose
sehen.Aber ich
will Sie nicht aufhalten, da drin ist offensichtlich Ihre Anwesenheit
vonnöten.« Sie wies auf den Stall, woraufhin ihr Fahrer
sich aufatmend zurück auf seinen Platz fallen ließ. Wenn
der Reverend selbst sich um die Sache kümmerte, wurde er ja wohl
nicht mehr gebraucht.
Baldwin schien zu überlegen, ob er Helen und die Lady erst
noch förmlich einander vorstellen sollte, bevor er den Stall
betrat. Dann aber sah er davon ab und begab sich ins Zentrum des
Aufruhrs.
Mary und Laurie, in der Mitte des Heulagers, hielten sich
schluchzend umklammert, während eine kräftige Frau
versuchte, sie auseinander zu zerren. Ein breitschultriger,
offensichtlich aber friedfertiger Mann stand hilflos daneben.Auch
Dorothy schien unschlüssig, ob sie tätlich werden oder nur
bitten und flehen sollte.
»Warum nehmen Sie denn nicht beide mit?«, fragte sie
verzweifelt. »Bitte, Sie sehen doch, dass es so nicht geht.«
Der Mann schien ganz ihrer Meinung zu sein. Mit drängendem
Unterton wandte er sich an seine Gattin. »Ja, Anna, zumindest
sollten wir den Reverend bitten, uns beide Mädchen zu geben. Die
Kleine ist noch so jung und zart. Die kann die schwere Arbeit allein
gar nicht leisten. Doch wenn die zwei sich helfen ...«
»Wenn die zwei zusammen bleiben, tratschen sie nur und tun
nichts!«, sagte die Frau mitleidlos. Helen blickte in kalte
blaue Augen in einem klaren, selbstzufriedenen Gesicht. »Wir
hatten nur eine angefordert – und nur eine nehmen wir auch
mit.«
»Dann nehmen Sie doch mich!«, bot Dorothy sich an.
»Ich bin größer und stärker und ...«
Anna Lavender schien von dieser Lösung recht angetan. Erfreut
betrachtete sie Dorothys deutlich kräftigere Gestalt.
Doch Helen schüttelte den Kopf. »Das ist sehr
christlich von dir, Dorothy«, erklärte sie mit einem
Seitenblick auf die Lavenders und den Reverend. »Aber es löst
das Problem nicht, sondern verschiebt es nur um einen Tag.
Schließlich kommen morgen deine neuen Dienstherren, und dann
müsste Laurie mit denen gehen. Nein, Reverend, Mr. Lavender –
wir müssen eine Möglichkeit finden, die Zwillinge
zusammenzulassen. Gibt es nicht zwei Nachbarfamilien, die
Dienstmädchen suchen? Dann könnten die beiden sich
wenigstens in ihrer freien Zeit sehen.«
»Und tagsüber pausenlos nacheinander greinen!«,
warf Mrs. Lavender ein. »Kommt nicht in Frage. Ich nehme dieses
Mädchen oder ein anderes. Abernur eins.«
Helen blickte den Reverend Hilfe suchend an. Der aber machte keine
Anstalten, sie zu unterstützen.
»Im Grunde kann ich Mrs. Lavender nur Recht geben«,
meinte er stattdessen. »Je früher man die Mädchen
trennt, desto besser.Also hört zu, Laurie und Mary. Gott hat
euch zusammen in dieses Land geführt, was schon gnädig von
ihm war – er hätte auch nur eine erwählen und die
andere in England lassen können.Aber nun führt er euch auf
verschiedene Pfade. Das bedeutet keine Trennung für immer,
sicher werdet ihr euch bei der Sonntagsmesse oder zumindest bei hohen
Kirchenfesten wiedersehen. Gott ist euch wohl gesonnen und weiß,
was er tut. Uns ist die Pflicht auferlegt, seinen Geboten zu folgen.
Du wirst den Lavenders eine gute Magd sein, Laurie. Und Mary geht
morgen mit den Willards. Beides sind gute, christliche Familien. Man
wird euch angemessen zu essen geben, euch kleiden und zu christlicher
Lebensführung anhalten. Es gibt nichts zu befürchten,
Laurie, wenn du jetzt brav mit den Lavenders gehst. Wenn es aber gar
nicht anders geht, wird Mr. Lavender dich züchtigen.«
Mr. Lavender sah ganz und gar nicht wie ein Mann aus, der kleine
Mädchen schlagen würde. Im Gegenteil, er blickte mit
ausgesprochenem Mitgefühl auf Mary und Laurie.
»Schau, Kleine, wir wohnen hier in Christchurch«,
wandte er sich jetzt beruhigend an das schluchzende Kind. »Und
alle Familien aus dem Umkreis kommen ab und zu her, um einzukaufen
und die Messe zu hören. Ich kenne die Willards nicht, aber wir
können bestimmt mit denen in Verbindung treten. Wenn sie dann
herkommen, geben wir dir frei, und du kannst einen ganzen Tag mit
deiner Schwester verbringen. Ist dir das nicht ein Trost?«
Laurie nickte, doch Helen fragte sich, ob sie wirklich verstand,
um was es hier ging. Wer wusste, wo diese Willards lebten – es
war kein gutes Zeichen, dass Mr. Lavender sie nicht
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