Im Land der weissen Rose
Mädchen macht einen guten Eindruck,
aber ist es wirklich vertrauenswürdig? Es würde mir das
Herz brechen, wenn Mrs. Godewind enttäuscht würde. Sie hat
sich so auf die kleine Engländerin gefreut.«
Helen versicherte ihm, sich kein klügeres und angenehmeres
Mädchen als Elizabeth vorstellen zu können.
»Braucht sie das Mädchen denn als Gesellschafterin? Ich
meine ... dafür engagiert man doch ältere und gebildetere
junge Frauen«, erkundigte sie sich dann.
Der Diener nickte. »Ja, aber die muss man erst mal finden.
Und viel zahlen kann Mrs. Godewind auch nicht, sie hat nur eine
kleine Pension. Meine Frau und ich führen ihr den Haushalt, aber
meine Frau ist Maori, wissen Sie ... die kann ihr das Haar machen,
kann für sie kochen und sie umsorgen, aber vorlesen und ihr
Geschichten erzählen kann sie nicht. Deshalb dachten wir an ein
englisches Mädchen. Es wird bei mir und meiner Frau wohnen und
ein bisschen im Haushalt helfen, aber vor allem wird es Mrs. Godewind
Gesellschaft leisten.Sie können sicher sein, es wird ihm an
nichts fehlen!«
Helen nickte getröstet. Wenigstens Elizabeth würde gut
versorgt sein. Ein winziger Lichtblick am Ende eines schrecklichen
Tages.
»Kommen Sie doch übermorgen zu uns zum Tee«, lud
Mrs. Godewind Helen noch ein, bevor die Chaise abfuhr.
Elizabeth winkte fröhlich.
Helen dagegen fand jetzt nicht mehr die Kraft, zurück indem
Stall zu gehen und Mary zu trösten, und sie schaffte es auch
nicht, weiter an Reverend Baldwins Tisch Konversation zu machen. Zwar
war sie immer noch hungrig, aber sie tröstete sich damit, dass
die nicht gegessenen Reste mit etwas Glück den Mädchen
zugute kommen würden. Sie entschuldigte sich höflich und
fiel dann in ihr Bett. Morgen konnte es kaum schlimmer kommen.
Am nächsten Morgen schien strahlend die Sonne über
Christchurch und tauchte alles in warmes, freundliches Licht. Von
Helens Zimmer aus bot sich ein atemberaubender Blick auf die
Bergkette oberhalb der Canterbury Plains, und die Straßen der
kleinen Stadt wirkten im Sonnenlicht sauber und anheimelnd.Aus dem
Frühstückszimmer der Baldwins drang der Duft von frischem
Gebäck und Tee. Helen lief das Wasser im Munde zusammen. Sie
hoffte, dass dieser gute Anfang als Omen zu werten war. Bestimmt
hatte sie sich gestern nur eingebildet, dass Mrs. Baldwin
unfreundlich und kaltherzig, ihre Tochter boshaft und unerzogen und
Reverend Baldwin bigott und gänzlich uninteressiert am Wohl
seiner Pfarrkinder war. Im Licht des neuen Morgens würde sie die
Pastorenfamilie milder beurteilen, ganz bestimmt. Zuerst aber musste
sie nach ihren Mädchen sehen.
Im Stall traf sie Vikar Chester, der tröstend auf die noch
immer jammernde Mary einredete, was jedoch ohne Wirkung blieb. Die
Kleine weinte und fragte schluchzend nach ihrer Schwester. Sie nahm
nicht mal das Teeküchlein, das der junge Priester ihr hinhielt,
als könnte ein bisschen Zucker alles Leid der Welt lindern. Das
Kind wirkte völlig erschöpft; es hatte offensichtlich kein
Auge zugetan. Helen durfte gar nicht daran denken, das Mädchen
gleich anderen, wildfremden Leuten auszuhändigen.
»Wenn Laurie genauso viel jammert und nichts isst, schicken
die Lavenders sie bestimmt zurück«, meinte Dorothy
hoffnungsvoll.
Daphne verdrehte die Augen. »Das glaubst du doch selbst
nicht. Die Alte verprügelt sie eher oder sperrt sie in den
Besenschrank. Und wenn sie nichts isst, freut sie sich, dass sie ’ne
Mahlzeit gespart hat. Die ist kalt wie ’ne Hundeschnauze, das
Miststück... oh, guten Morgen, Miss Helen. Ich hoffe, wenigstens
Sie haben gut geschlafen!« Daphne funkelte ihre Lehrerin
respektlos an und machte keine Anstalten, sich für das
»Miststück« zu entschuldigen.
»Wie du gestern selbst angemerkt hast«, meinte Helen
eisig, »hatte ich keine Möglichkeit, irgendetwas für
Laurie zu tun. Ich werde aber noch heute versuchen, Verbindung mit
der Familie aufzunehmen. Davon abgesehen habe ich sehr gut
geschlafen, und du sicher auch. Das wäre schließlich das
erste Mal gewesen, dass du dich von den Gefühlen deiner
Mitmenschen hättest beeinflussen lassen.«
Daphne senkte den Kopf. »Tut mir Leid, Miss Helen.«
Helen wunderte sich. Sollte sie doch so etwas wie einen
Erziehungserfolg erzielt haben?
Am späten Vormittag erschienen die künftigen
Dienstherren der kleinen
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