Im Land der weissen Rose
Schicklichkeit! Nein, nein, Mr.
Willard hat selbstverständlich eine Frau und sieben Kinder.«
Mr. Willard nickte stolz. Er wirkte ganz sympathisch. Sein
Gesicht, das von Lachfalten durchzogen war, zeigte zugleich die
Spuren schwerer Arbeit im Freien, die bei jedem Wetter verrichtet
werden musste. Seine Hände waren schwielige Pranken, und unter
seiner Kleidung zeichneten sich Muskelpakete ab.
»Die älteren Jungs arbeiten schon kräftig auf den
Feldern mit!«, erklärte der Farmer. »Aber für
die Kleinen braucht meine Frau Hilfe. Im Haushalt und im Stall
natürlich auch. Und die Maori-Frauen mag sie nicht. Ihre Kinder,
sagt sie, sollen nur von anständigen Christenmenschen aufgezogen
werden. Welches ist nun unser Mädchen? Es sollte kräftig
sein, wenn’s geht, die Arbeit ist hart!«
Mr. Willard wirkte ähnlich entsetzt wie Helen, als Mrs.
Baldwin ihm daraufhin Mary vorstellte. »Die Kleine? Das soll
wohl ein Witz sein, Frau Pastor! Da holen wir uns doch das achte Kind
ins Haus.«
Mrs. Baldwin sah ihn streng an. »Wenn Sie das Mädchen
nicht verzärteln, kann es durchaus hart arbeiten. In London hat
man uns versichert, dass jedes der Mädchen das dreizehnte
Lebensjahr vollendet hat und unbeschränkt einsatzfähig
ist.Also, wollen Sie das Mädchen nun oder nicht?«
Mr. Willard schien zu schwanken. »Meine Frau braucht
dringend Hilfe«, sagte er fast entschuldigend in Helens
Richtung. »Um Weihnachten kommt das nächste Kind zur Welt,
da muss ihr einer unter die Arme greifen. Na, dann komm, Kleine, wir
kriegen das schon hin. Na los, worauf wartest du? Und warum weinst
du? Herrgott, ich hab wirklich keine Lust auf weitere
Schwierigkeiten!« Ohne Mary noch einen Blick zu gönnen,
ging Mr. Willard aus dem Stall. Mrs. Baldwin drückte der Kleinen
ihr Bündel in die Hand.
»Geh mit ihm. Und sei ihm eine gehorsame Magd!«,
beschied sie dem Kind. Mary folgte ohne Widerrede. Sie weinte bloß
noch. Sie weinte und weinte.
»Hoffen wir, dass wenigstens seine Frau ein bisschen
Mitgefühl zeigt«, seufzte Vikar Chester. Er hatte die
Szene ebenso hilflos mit angesehen wie Helen.
Daphne schnaubte. »Zeigen Sie mal Mitgefühl, wenn Ihnen
acht Bälger am Rock hängen!«, fuhr sie den Priester
an. »Und alle Jahre macht Ihr Kerl Ihnen ein neues!Aber Geld
ist nicht da, und das letzte bisschen versäuft er. Da bleibt
Ihnen das Mitleid im Hals stecken. Sie selbst tun ja auch keinem
Leid!«
Vikar Chester schaute sie erschrocken an. Offensichtlich stellte
er sich gerade die Frage, wie dieses Mädchen sich als demütige
Dienstmagd im Hause eines ehrbaren Honoratioren der Stadt
Christchurch machen würde. Helen dagegen konnten Daphnes
Ausbrüche nicht mehr überraschen – und sie ertappte
sich dabei, dass sie immer mehr Verständnis dafür
aufbrachte.
»Aber, aber, Daphne. Mr. Willard macht nicht den Eindruck,
als ob er sein Geld vertrinkt«, rief sie das Mädchen zur
Mäßigung auf. Darüber hinaus konnte sie Daphne aber
nicht tadeln; sie hatte zweifellos Recht. Mrs. Willard würde
Mary nicht schonen. Sie hatte genug eigene Kinder, um die sie sich
kümmern musste. Die kleine Magd würde für sie nicht
mehr sein als eine billige Arbeitskraft. Der Vikar musste das auch so
sehen.Jedenfalls äußerte er sich nicht weiter zu Daphnes
Frechheiten, sondern machte den Mädchen gegenüber nur eine
kurze, segnende Gebärde, bevor er den Stall verließ.Zweifellos
hatte er seine Pflichten schon lange genug vernachlässigt, um
sich den Tadel des Reverends zuzuziehen.
Helen wollte die Bibel wieder aufschlagen, aber im Grunde hatten
jetzt weder sie noch ihre Schülerinnen Sinn für erbauliche
Texte.
»Ich bin mal gespannt, was noch auf uns zukommt«,
fasste Daphne schließlich die Gedanken der verbleibenden
Mädchen in Worte. »Die Leute müssen ja ganz schön
weit weg wohnen, wenn sie noch nicht aufgetaucht sind, um ihre
Sklaven in Empfang zu nehmen. Üb schon mal Kühe melken,
Dorothy!« Sie wies auf die Kuh des Pastors, die sie sicher
schon gestern Abend um einige Liter Milch erleichtert hatte. Mrs.
Baldwin hatte die Kinder nämlich keinesfalls an den Resten des
Abendessens teilhaben lassen,sondern ihnen nur eine dünne Suppe
und ein bisschen altes Brot in den Stall geschickt. Das gastliche
Haus des Reverends würden die Mädchen bestimmt
Weitere Kostenlose Bücher