Im Land der weissen Rose
Rosemary. Helen hatte sich vor der Ãœbergabe
gefürchtet, erlebte diesmal aber eine positive Überraschung.
Die McLarens, ein kleiner, rundlicher Mann mit sanftem, pausbäckigem
Gesicht und seine nicht minder gut genährte Frau, die mit ihren
roten Apfelbäckchen und den runden blauen Augen puppenhaft
wirkte, kamen gegen elf Uhr zu Fuß hinüber. Wie sich
herausstellte, gehörte ihnen die Bäckerei von Christchurch
– die frischen Semmeln und Teeküchlein, deren Duft Helen
am Morgen geweckt hatte, stammten aus ihrer Produktion. Da Mr.
McLaren vor Tau und Tag mit der Arbeit begann und entsprechend früh
zu Bett ging, hatte Mrs. Baldwin die Familie gestern nicht mehr
stören wollen, sondern erst heute früh vom Eintreffen der
Mädchen unterrichtet. Jetzt hatten sie den Laden geschlossen, um
Rosemary abzuholen.
»Gott, sie ist ja noch ein Kind!«, wunderte sich Mrs.
McLaren, als Rosemary verängstigt vor ihr knickste. »Und
aufpäppeln müssen wir dich auch erst, du kleiner
Hungerhaken. Wie heißt du denn?«
Mrs. McLaren wandte sich zunächst ein wenig vorwurfsvoll an
Mrs.Baldwin, die den Einwand kommentarlos hinnahm.Als sie dann aber
zu Rosemary sprach, hockte sie sich freundlich vor ihr nieder und
lächelte ihr zu.
»Rosie ...«, flüsterte die Kleine.
Mrs. McLaren fuhr ihr übers Haar. »Das ist aber ein
schöner Name. Rosie, wir hatten uns gedacht, du möchtest
vielleicht bei uns wohnen und mir ein bisschen im Haushalt und in der
Küche helfen. In der Backstube natürlich auch. Magst du
Kuchen backen, Rosemary?«
Rosie überlegte. »Ich mag Kuchen essen«, sagte
sie.
Die McLarens lachten, wobei es bei ihm wie ein Glucksen, bei ihr
wie ein fröhliches Kicksen klang.
»Das sind die besten Voraussetzungen!«, erklärte
Mr. McLaren ernst. »Nur wer gern isst, kann auch gut kochen!
Was meinst du, Rosie, kommst du mit uns?«
Helen atmete auf, als Rosemary gewichtig nickte. Die McLarens
schienen auch gar nicht überrascht zu sein, dass ihnen hier eher
ein Pflegekind als ein Dienstmädchen ins Haus kam.
»Ich habe in London schon mal einen Jungen aus dem
Waisenhaus angelernt«, klärte Mr. McLaren dieses Rätsel
kurz danach auf. Er unterhielt sich noch ein wenig mit Helen, während
seine Frau Rosie half, ihre Sachen zusammenzupacken. »Angefordert
hatte mein Meister einen Vierzehnjährigen, der gleich richtig
mit anfassen sollte. Und geschickt haben sie einen Knirps, der aussah
wie zehn. War aber ein anstelliges Bürschchen. Die Meisterin hat
ihn gut gefüttert, und inzwischen ist er ein gestandener
Bäckergeselle. Wenn unsere Rosie auch so gut einschlägt,
wollen wir uns über die Aufzuchtkosten nicht beschweren!«
Er lachte Helen zu und drückte Dorothy eine Tüte Gebäck
in die Hand, die er extra für die Mädchen mitgebracht
hatte.
»Aber gerecht verteilen, Mädel!«, ermahnte er
sie. »Ich wusste doch, dass da noch mehr Kinder sein werden,
und unsere Frau Pastor ist nicht gerade für ihre Großzügigkeit
bekannt.«
Daphne streckte denn auch gleich gierig die Hand nach dem
Zuckerzeug aus. Sie hatte sicher noch nicht gefrühstückt,
zumindest nicht ausreichend. Mary dagegen war nach wie vor
untröstlich und schluchzte noch lauter, als nun auch Rosemary
fortging.
Helen beschloss, es mit Ablenkung zu versuchen, und eröffnete
den Mädchen, sie würden heute Schule halten wie auf dem
Schiff. Solange die Mädchen noch nicht in ihren Familien waren,
konnten sie besser lernen als untätig herumsitzen. In Anbetracht
der Tatsache, dass man sich in einem Pastorenhaushalt befand, griff
Helen diesmal zur Bibel als Lektüre.
Gelangweilt begann Daphne, die Geschichte der Hochzeit zu Kanaa zu
lesen, schlug das Buch aber gern zu, als Mrs. Baldwin kurz darauf
eintrat. In ihrer Begleitung befand sich ein großer,
vierschrötiger Mann.
»Sehr löblich, Miss Davenport, dass Sie sich der
Erbauung der Mädchen widmen!«, erklärte die
Pfarrersfrau. »Aber inzwischen hätten Sie dieses Kind
wirklich zum Schweigen bringen können.«
Missmutig blickte sie auf die wimmernde Mary. »Jetzt ist es
aber auch egal. Dies ist Mr. Willard, er wird Mary Alliston mit auf
seine Farm nehmen.«
»Sie soll allein mit einem Farmer leben?«, fuhr Helen
auf.
Mrs. Baldwin hob den Blick gen Himmel. »Um Gottes willen,
nein! Das wäre wider alle
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