Im Land Der Weissen Wolke
Fantasie als Haus zu bezeichnen war und mindestens so viel Zeit und Geld für die Renovierung verschlingen würde wie der Bau eines neuen Hauses. Zudem war er ungünstig gelegen. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschah, musste George sich morgen nach Grundstücken umsehen und doch einen Neubau in Erwägung ziehen. Wie er das seinen Eltern erklären sollte, entzog sich seiner Kenntnis.
Müde und schlecht gelaunt ließ er sich treiben, beobachtete die Enten und Schwäne auf dem Fluss und wurde dabei unversehens auf eine junge Frau aufmerksam, die nebenan zwei Kinder hütete. Das kleine Mädchen mochte sieben oder acht Jahre alt sein; war ein wenig pummelig und hatte dicke, fast schwarze Locken. Es plauderte vergnügt mit seiner Nanny, während es von einem befestigten Landungssteg aus altes Brot für die Enten ins Wasser warf. Der kleine Junge, ein blonder Cherub, erwies sich dagegen als rechte Landplage. Er hatte den Steg verlassen und trieb sich im Schlamm am Ufer herum.
Die Nanny schien sich deswegen zu sorgen. »Robert, geh nicht so nah an den Fluss! Wie oft soll ich dir das noch sagen? Nancy, achte auf deinen Bruder!«
Die junge Frau – George schätzte sie auf höchstens achtzehn Jahre – stand ziemlich hilflos am Rand des schlammigen Uferstreifens. Sie trug glänzend polierte, ordentliche schwarze Schnürschuhe zu einem schlichten, dunkelblauen Tuchkleid. Wenn sie dem Kleinen ins Brackwasser folgte, würde sie sich beides verderben. Dem kleinen Mädchen vor ihr erging es ähnlich. Es war sauber und adrett gekleidet und hatte sicher die Anweisung erhalten, sich nicht schmutzig zu machen.
»Er hört nicht auf mich, Missy!«, sagte die Kleine brav.
Der Junge hatte seinen Matrosenanzug schon von oben bis unten mit Schlamm beschmiert.
»Ich komm, wenn du mir Schiffchen faltest!«, rief er jetzt unartig zu seiner Nanny hinüber. »Dann gehen wir zum See und lassen sie schwimmen.«
Der »See« war nicht mehr als eine große Pfütze, die übrig geblieben war, als der Fluss im Winter Hochwasser führte. Er sah nicht sehr sauber aus, aber zumindest gab es keine gefährliche Strömung.
Die junge Frau schien unschlüssig. Bestimmt wusste sie, dass es falsch war, sich auf Verhandlungen einzulassen, aber sie mochte offensichtlich nicht durch den Matsch waten und den Kleinen mit Gewalt holen. Schließlich versuchte sie es mit einem Gegenvorschlag.
»Aber erst üben wir deine Aufgaben! Ich will nicht, dass du heute Abend wieder nichts weiß, wenn dein Vater dich fragt.«
George schüttelte den Kopf. Helen hatte in ähnlichen Situationen mit William nie nachgegeben. Aber diese Gouvernante war deutlich jünger und offenbar viel weniger erfahren, als Helen damals im Hause der Greenwoods. Sie wirkte beinahe verzweifelt; das Kind überforderte sie sichtlich. Trotz ihrer mürrischen Miene war sie hübsch: George blickte in ein herzförmiges zartes Gesicht mit sehr heller Haut, klaren blauen Augen und hellen rosa Lippen. Ihr Haar war fein und blond, gebändigt zu einem lockeren Knoten im Nacken, der aber nicht gut hielt. Entweder war ihr Haar zu weich, um sich aufstecken zu lassen, oder das Mädchen war eine schlechte Frisörin. Auf ihrem Kopf saß eine adrette Haube, passend zum Kleid. Alles sehr schlicht, doch keine Dienstbotenuniform. George revidierte seinen ersten Eindruck. Das Mädchen war Hauslehrerin, keine Nanny.
»Ich löse eine Aufgabe, dann krieg ich das Boot!«, rief Robert selbstbewusst. Er hatte eben einen ziemlich baufälligen Bootssteg entdeckt, der weiter auf den Fluss hinausführte, und balancierte vergnügt darüber. George war alarmiert. Bis jetzt war der Kleine nur aufsässig gewesen, nun aber bestand wirklich Gefahr. Die Strömung war sehr stark.
Die Hauslehrerin sah es ebenfalls, wollte aber nicht kampflos aufgeben.
»Du löst drei Aufgaben«, schlug sie vor. Ihre Stimme klang brüchig.
»Zwei!« Der kleine Junge, er mochte sechs Jahre alt sein, schaukelte auf einem lockeren Brett.
George reichte es jetzt. Er trug schwere Reitstiefel, mit denen er den Schlamm leicht durchqueren konnte. Mit drei Schritten war er auf dem Bootssteg, schnappte sich den lamentierenden Kleinen und trug ihn kurzerhand über den Uferstreifen zurück zu seiner Lehrerin.
»Hier, ich glaube, der ist Ihnen entlaufen!« George lachte sie an.
Die junge Frau zögerte zunächst – unsicher, was sich in dieser Lage schickte. Dann aber siegte die Erleichterung, und sie lächelte ebenfalls. Es war aber auch zu komisch, wie Robert
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