Im Land Der Weissen Wolke
endlos Vorwürfe machen, damit ist keinem gedient.«
Im Stillen dachte er, dass dieser Unfall genau zu Lucas passte. Ein Künstler, hoffnungslos unfähig im praktischen Leben. Dabei so ein Talent, so eine Vergeudung!
»Wie bist du dann gerettet worden?«, fragte George. »Ich meine, wenn ich es recht verstanden habe, wart ihr doch ziemlich weit weg von hier.«
»Wir ... wir waren gar nicht so weit weg«, sagte David. »Wir hatten uns beide verrechnet. Ich dachte, wir wären bestimmt vierzig Meilen geritten, dabei waren es gerade mal fünfzehn. Aber zu Fuß hätte ich das trotzdem nicht geschafft ... mit dem verletzten Bein. Ich war sicher, sterben zu müssen. Aber erst ... erst hab ich Luke begraben. Gleich am Strand. Nicht sehr tief, fürcht ich, aber ... aber es gibt hier doch keine Wölfe, oder?«
George versicherte ihm, dass kein wildes Tier auf Neuseeland den Toten ausgraben würde.
»Und dann hab ich gewartet ... darauf gewartet, dass ich auch sterbe. Drei Tage, glaub ich ... irgendwann weiß ich nichts mehr, ich hatte dann Fieber, hab’s auch nicht mehr zum Fluss geschafft, um Wasser zu trinken ... Aber inzwischen war unser Pferd nach Hause gekommen, da hat Mr. Miller sich wohl gedacht, dass was nicht stimmt. Wollte gleich einen Suchtrupp schicken, aber die Männer haben ihn ausgelacht. Luke ... Luke war nicht so geschickt mit Pferden, wissen Sie. Alle haben gedacht, er hat den Gaul einfach nicht richtig festgebunden, und er ist ihm weggelaufen. Aber als wir dann nicht wiederkamen, haben sie doch ein Boot raufgeschickt. Der Barbier ist sogar mitgefahren. Und sie haben mich gleich gefunden. Nur zwei Stunden paddeln, sagten sie. Ich hab da aber gar nichts von mitgekriegt. Als ich aufwachte, war ich hier ...«
George nickte und strich dem Jungen übers Haar. David wirkte so jung. George musste unweigerlich an das Kind denken, mit dem seine Elizabeth gerade schwanger ging. In ein paar Jahren würde er vielleicht auch so einen Sohn haben – so eifrig, so tapfer, aber hoffentlich unter einem besseren Stern geboren als dieser junge Mann hier. Was mochte Lucas in David gesehen haben? Den Sohn, den er sich wünschte? Oder eher den Liebhaber? George war nicht dumm, und er kam aus der Großstadt. Gleichgeschlechtliche Neigungen waren ihm nicht fremd, und Lucas’ Auftreten – dazu Gwyneiras jahrelange Kinderlosigkeit – hatten von Anfang an den Verdacht in ihm geschürt, der junge Warden sei eher Knaben als Mädchen zugeneigt. Nun, ihn ging das nichts an. Und was David betraf, ließen die verliebten Blicke, die er Daphne zuwarf, keinen Zweifel an seiner sexuellen Orientierung. Daphne erwiderte diese Blicke jedoch nicht. Eine weitere unvermeidliche Enttäuschung für den Jungen.
George dachte kurz nach.
»Hör zu, David«, sagte er dann. »Lucas Warden ... Luke Denward ... war nicht so allein auf der Welt, wie du geglaubt hast. Er hatte Familie, und ich denke, seine Frau hat das Recht darauf, zu erfahren, wie er gestorben ist. Wenn es dir wieder gut geht, wird im Mietstall ein Pferd auf dich warten. Dann reitest du in die Canterbury Plains und suchst nach Gwyneira Warden auf Kiward Station. Wirst du das tun ... für Luke?«
David nickte ernsthaft. »Wenn Sie meinen, dass er es gewollt hätte.«
»Das hätte er sicher gewollt, David«, erwiderte George. »Und hinterher reitest du nach Christchurch und kommst in meine Firma. Greenwood Enterprises. Da wirst du zwar kein Gold finden, aber einen einträglicheren Job als den als Stallbursche. Wenn du ein kluger Junge bist – und das bist du bestimmt, sonst hätte Lucas dich nicht protegiert – kannst du es auf Dauer zu Wohlstand bringen.«
David nickte wieder, diesmal jedoch unwillig.
Daphne dagegen warf George einen freundlichen Blick zu.
»Sie werden ihm einen Job geben, in dem er sitzen kann, nicht wahr?«, meinte sie, als sie den Besucher schließlich hinausführte. »Der Barbier sagt, er wird immer hinken, das Bein ist kaputt. Auf dem Bau und im Stall kann er nicht mehr arbeiten. Aber wenn Sie ihm eine Stelle im Büro beschaffen ... dann kommt er auch auf andere Gedanken, was Mädchen angeht. Es war gut für ihn, dass er nicht auf Luke abfuhr, aber ich bin auch nicht die passende Braut.«
Sie sprach ruhig und ohne jede Bitterkeit, und George verspürte ein leises Bedauern, dass dieses tatkräftige, kluge Geschöpf ein Mädchen war. Als Mann hätte Daphne in dem neuen Land ihr Glück machen können. Als Mädchen konnte sie nur das sein, was sie wohl auch
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