Im Land Der Weissen Wolke
in London geworden wäre – eine Hure.
Es sollte mehr als ein halbes Jahr vergehen, bevor Steinbjörn Sigleifson die Schritte seines Pferdes wirklich über die Auffahrt von Kiward Station lenkte. Der Junge hatte lange im Bett gelegen und dann erst mühsam wieder gehen lernen müssen. Außerdem war ihm der Abschied von Daphne und den Zwillingen schwer gefallen – auch wenn die Mädchen ihm jeden Tag zuredeten, nun endlich aufzubrechen. Letztendlich war ihm aber gar nichts anderes übrig geblieben. Miss Jolanda verlangte nachdrücklich, dass er das Zimmer in ihrem Bordell räumte, und Mr. Miller erlaubte ihm zwar, sein Lager wieder im Stall aufzuschlagen, aber eine Gegenleistung dafür konnte er nicht mehr erbringen. Überhaupt gab es in ganz Westport keine Arbeit für einen Krüppel – die hartgesottenen Coaster hatten ihm das schonungslos mitgeteilt. Dabei bewegte der Junge sich schon wieder ganz geschickt, doch er hinkte stark, und lange konnte er nicht auf den Beinen sein. Also war er schließlich losgeritten – und stand nun fassungslos vor Staunen vor der Fassade des Herrenhauses, in dem Lucas Warden gelebt hatte. Nach wie vor hatte er keine Ahnung, weshalb sein Freund Kiward Station verlassen hatte, aber er musste gewichtige Gründe gehabt haben, einen solchen Luxus aufzugeben. Gwyneira Warden mochte ein ziemlicher Drache sein! Steinbjörn – nachdem er Daphne verlassen hatte, sah er keinen Grund, weiter an dem Namen David festzuhalten – überlegte ernsthaft, unverrichteter Dinge kehrtzumachen. Wer konnte schon sagen, was er sich von Lukes Frau anhören musste! Womöglich machte auch sie ihn verantwortlich für dessen Tod.
»Was machst du hier? Nenn mir deinen Namen und dein Begehr!«
Steinbjörn fuhr zusammen, als er das helle Stimmchen hinter sich hörte. Es kam von unten aus dem Gebüsch, und der junge Isländer – aufgewachsen mit dem Glauben an Feen und Elfen, die in Steinen hausten – vermutete im ersten Moment einen Geist.
Das kleine Mädchen auf dem Pony, das dann hinter ihm auftauchte, machte allerdings einen recht diesseitigen Eindruck, auch wenn Reiterin und Pferd feenhaft zart wirkten. Steinbjörn hatte noch nie ein so kleines Pony gesehen, auch wenn die Pferde auf seiner Heimatinsel ebenfalls nicht groß waren. Aber diese winzige Rotschimmelstute – deren Farbe perfekt mit dem rotblonden Haar der kleinen Reiterin harmonierte – wirkte wie ein Vollblutpferd in Miniaturausgabe. Das Mädchen lenkte die Stute entschlossen neben ihn.
»Wird’s bald?«, fragte sie frech.
Steinbjörn musste lachen. »Mein Name ist Steinbjörn Sigleifson, und ich suche die Lady Gwyneira Warden. Dies hier ist doch Kiward Station, nicht wahr?«
Das Mädchen nickte ernst. »Ja, aber jetzt ist Schafschur, da ist Mummy nicht im Haus. Gestern hat sie in Schuppen drei Aufsicht gemacht, heute ist sie in Nummer zwei. Sie wechselt sich mit dem Vorarbeiter ab. Großvater macht Schuppen eins.«
Steinbjörn wusste zwar nicht, wovon das Mädchen sprach, war aber überzeugt davon, dass die Kleine Recht hatte.
»Kannst du mich dahin bringen?«, erkundigte er sich.
Das Mädchen runzelte die Stirn. »Du bist ein Besucher, nicht? Also muss ich dich eigentlich ins Haus bringen, und da musst du deine Karte in die silberne Schale legen. Und dann kommt Kiri und heißt dich willkommen, und anschließend Witi, und dann gehst du in den kleinen Salon und kriegst Tee ... ach ja, und ich muss dich unterhalten, sagt Miss Helen. Das ist so was wie miteinander reden. Über das Wetter und so. Du bist doch ein Gentleman, oder?«
Steinbjörn verstand immer noch nichts, konnte dem Mädchen einen gewissen Unterhaltungswert aber nicht absprechen.
»Ich bin übrigens Fleurette Warden, und das ist Minty.« Sie wies auf das Pony.
Steinbjörn betrachtete das Kind gleich mit mehr Interesse. Fleurette Warden – das musste Lukes Tochter sein! Also hatte er auch dieses entzückende Kind verlassen ... Steinbjörn verstand seinen Freund immer weniger.
»Ich glaube, ich bin kein Gentleman«, beschied er die Kleine schließlich. »Jedenfalls hab ich keine Karte. Könnten wir nicht einfach ... ich meine, kannst du mich nicht einfach gleich zu deiner Mutter bringen?«
Fleurette schien auch nicht allzu viel Lust auf höfliche Konversation zu hegen und ließ sich erweichen. Sie setzte ihr Pony vor Steinbjörns Pferd, das sich anstrengen musste, mitzuhalten. Die kleine Minty machte kurze, aber recht schnelle Schritte, und Fleurette bewegte sie
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