Im Land Der Weissen Wolke
souverän. Auf dem kurzen Weg zu den Scherschuppen verriet sie ihrem neuen Freund, dass sie eben aus der Schule käme, wo sie eigentlich nicht allein hinreiten dürfte, aber zurzeit eben doch, weil während der Schafschur kein Begleiter abkömmlich war. Sie erzählte von ihrem Freund Ruben und ihrem kleinen Bruder Paul, den sie ziemlich dumm fand, weil er nicht redete, sondern nur schrie – vor allem, wenn Fleurette ihn in den Arm nahm.
»Der mag uns alle nicht, nur Kiri und Marama«, sagte sie. »Guck mal, da ist Schuppen zwei. Wetten, dass Mummy da drin ist?«
Die Scherschuppen waren langgestreckte Gebäude, die Platz für mehrere Pferche boten und es den Scherern ermöglichten, auch bei Regen im Trockenen zu arbeiten. Davor und dahinter befanden sich weitere Gatter, in denen die noch nicht geschorenen Schafe auf die Schur, die fertigen auf den Abtrieb zurück auf ihre Weiden warteten. Steinbjörn verstand kaum etwas von Schafen, hatte in seiner Heimat aber schon viele gesehen – und beim Vergleich mit ihnen fiel selbst dem Laien auf, dass er hier Spitzentiere vor sich hatte. Vor der Schur sahen die Schafe von Kiward Station wie saubere, flauschige Wollknäuel auf Beinen aus. Danach wurden sie durch ein Hygienebad getrieben und wirkten zwar etwas gerupft, aber doch gut genährt und munter. Fleurette war inzwischen abgestiegen und hatte ihr Pony mit einem fachmännischen Knoten vor dem Schuppen angebunden. Steinbjörn tat es ihr nach und folgte ihr nach innen, wo ihm sofort ein durchdringender Geruch nach Mist, Schweiß und Wollfett entgegenschlug. Fleurette schien ihn nicht zu bemerken. Sie schob sich zielsicher durch das geordnete Chaos aus Männern und Schafen. Steinbjörn beobachtete fasziniert, wie die Scherer die Tiere blitzschnell ergriffen, auf den Rücken legten und binnen kurzem von ihrer Wolle befreiten. Dabei schienen sie miteinander zu wetteifern. Sie riefen sich und vor allem der Aufsicht im Schuppen ständig triumphierend neue Zahlen zu.
Wer hier Buch führte, musste höllisch aufpassen. Doch die junge Frau, die zwischen den Männern umherging und deren Ergebnisse notierte, schien nicht überfordert. Entspannt scherzte sie mit den Scherern, und sie machte nicht den Anschein, als würden ihre Aufzeichnungen jemals angezweifelt. Gwyneira Warden trug ein schlichtes graues Reitkleid und hatte ihr langes rotes Haar nachlässig zu einem Zopf geflochten. Sie war klein, aber offensichtlich ebenso energisch wie ihre Tochter – und als sie Steinbjörn jetzt ihr Gesicht zuwandte, war er verblüfft über so viel Schönheit. Was hatte Luke Warden bloß dazu getrieben, eine solche Frau zu verlassen? Steinbjörn konnte sich kaum satt sehen an ihren edlen Zügen, den sinnlichen Lippen und den faszinierenden, indigoblauen Augen. Er merkte erst, dass er sie anstarrte, als ihr Lächeln einem irritierten Ausdruck wich, und wandte sofort die Augen ab.
»Das ist Mummy. Und das ist Stein ... Stein ... irgendwas mit Stein«, versuchte Fleur sich an einer förmlichen Vorstellung.
Steinbjörn hatte sich inzwischen wieder gefangen und hinkte auf Gwyneira zu.
»Lady Warden? Steinbjörn Sigleifson. Ich komme aus Westport. Mr. Greenwood bat mich ... nun, ich war mit Ihrem verstorbenen Mann zusammen, als ...« Er hielt ihr die Hand hin.
Gwyneira nickte. »Mrs. Warden, nicht Lady«, verbesserte sie mechanisch, während sie ihn begrüßte. »Aber seien Sie willkommen. George erwähnte tatsächlich ... aber hier können wir uns nicht unterhalten. Warten Sie einen Augenblick.«
Die junge Frau schaute sich suchend um, entdeckte dann einen älteren, dunkelhaarigen Mann unter den Scherern und wechselte kurz ein paar Worte mit ihm. Dann verkündete sie den Männern im Schuppen, dass Andy McAran von nun an die Aufsicht übernehmen werde.
»Und ich erwarte, dass ihr den Vorsprung haltet! Bislang liegt dieser Schuppen deutlich in Führung vor eins und drei. Lasst euch das nicht wegnehmen! Ihr wisst: Den Siegern winkt ein Fass besten Whiskeys!« Sie winkte den Männern freundlich und wandte sich dann Steinbjörn zu. »Kommen Sie, gehen wir ins Haus. Aber vorher suchen wir meinen Schwiegervater. Er sollte auch hören, was Sie zu sagen haben.«
Steinbjörn folgte Gwyn und ihrer Tochter zu den Pferden. Dort stieg Gwyneira rasch und ohne Hilfe auf eine kräftige braune Stute. Der Junge bemerkte jetzt auch die Hunde, die ihr ständig folgten.
»Werdet ihr nicht gebraucht, Finn und Flora? Ab mit euch in den Schuppen. Du kommst mit,
Weitere Kostenlose Bücher