Im Land Der Weissen Wolke
vorfahren, ausgeruht und angemessen gekleidet.«
Am Tag des Gerichtstermins trug er einen seiner besten Anzüge. Und Paul, in seinem ersten Dreiteiler überhaupt, sah sehr erwachsen aus.
Gwyneira dagegen quälte sich mit der Frage herum, was wohl angemessen war. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich seit Jahren keine solchen Gedanken mehr um Kleidung gemacht. Aber sosehr sie sich sagte, dass es letztlich egal war, was eine Dame in mittleren Jahren bei einer Gerichtsverhandlung trug, solange es ordentlich und nicht zu auffällig war – ihr Herz schlug heftig, wenn sie nur daran dachte, James McKenzie wiederzusehen. Schlimmer noch, auch er würde sie sehen, und natürlich würde er sie erkennen. Aber was würde er bei ihrem Anblick empfinden? Würden seine Augen wieder aufleuchten wie damals, als sie dies gar nicht zu schätzen gewusst hatte? Oder würde er eher Mitleid empfinden, weil sie gealtert war, weil erste Falten ihr Gesicht prägten, weil Sorgen und Angst sich darin eingeschrieben hatten? Vielleicht würde er einfach nur Gleichmut empfinden; vielleicht war sie nur noch eine ferne, blasse Erinnerung, ausgelöscht durch zehn Jahre wildes Leben. Wenn der geheimnisvolle »Komplize« nun wirklich eine Frau gewesen war? Seine Frau?
Gwyneira schalt sich ihrer Gedanken, die manchmal zu mädchenhaften Träumen wurden, wenn sie sich die Wochen mit James wieder in Erinnerung rief. Konnte er die Tage am Seeufer vergessen haben? Die verzauberten Stunden im Steinkreis? Aber nein, sie waren ja im Streit geschieden. Er würde ihr nie verzeihen, dass sie Paul geboren hatte. Noch etwas, das Paul zerstört hatte ...
Gwyneira entschied sich schließlich für ein schlichtes, dunkelblaues Kleid mit Pellerine, vorn geknöpft, wobei die Schildpattknöpfe kleine Kostbarkeiten waren. Kiri steckte ihr Haar auf – eine strenge Frisur, die aber durch das kecke, zum Kleid passende Hütchen aufgelockert wurde. Gwyneira hatte das Gefühl, Stunden vor dem Spiegel zu verbringen, um hier und da noch eine Locke herauszuzupfen, das Hütchen ein bisschen zu verrücken und die Ärmelmanschette des Kleides so zu ordnen, dass der Schildpattknopf daran zu sehen war. Als sie schließlich in der Kutsche saß, war sie bleich vor Erwartung, Angst – und einer Art Vorfreude. Wenn das so weiterging, würde sie sich in die Wangen kneifen müssen, um ein wenig Farbe zu bekommen, bevor sie den Gerichtssaal betrat. Aber immer noch besser, als zu erröten: Gwyn hoffte, im Angesicht McKenzies nicht rot anzulaufen. Sie fröstelte und redete sich ein, es sei nur der kühle Herbsttag. Sie konnte ihre Finger nicht ruhig halten. Verkrampft knetete sie die Vorhänge an den Fenstern der Kutsche.
»Was ist denn, Mutter?«, fragte Paul schließlich, und Gwyn fuhr zusammen. Paul hatte ein feines Gespür für menschliche Schwächen. Er durfte auf keinen Fall mitbekommen, dass irgendetwas zwischen ihr und James McKenzie war.
»Bist du nervös wegen Mr. McKenzie?«, bohrte er jetzt schon nach. »Großvater sagt, du hättest ihn gekannt. Er hat ihn ja auch gekannt. Er war Vormann auf Kiward Station. Verrückt, Mutter, dass er dann plötzlich wegläuft und Schafe stiehlt, nicht wahr?«
»Ja, völlig verrückt«, stieß Gwyneira hervor. »Hätte ich ihm ... hätten wir alle ihm nicht zugetraut.«
»Und nun wird er womöglich gehängt!«, bemerkte Paul genüsslich. »Fahren wir hin, Großvater, wenn er gehängt wird?«
Gerald schnaubte. »Der Halunke wird nicht gehängt. Hat Glück mit dem Richter. Stephen ist kein Viehzüchter. Den lässt es kalt, dass er die Leute an den Rand des Ruins gebracht hat ...«
Gwyneira musste fast lächeln. Soviel sie wusste, waren McKenzies Diebstähle für keinen der Betroffenen mehr als Nadelstiche gewesen.
»Aber ein paar Jahre wird er hinter Gitter kommen. Und wer weiß, vielleicht erzählt er uns ja heute noch ein bisschen was über die Hintermänner. Er scheint doch nicht alles allein gemacht zu haben ...« Gerald glaubte nicht an die Geschichte mit der Frau in Gesellschaft McKenzies. Er glaubte eher an einen jungen Komplizen, hatte diesen aber nur als Schemen gesehen.
»Besonders der Hehler wäre interessant. So gesehen hätten wir bessere Chancen gehabt, wenn der Kerl in Dunedin vor Gericht gekommen wäre. Da hat Sideblossom schon Recht. Da ist er übrigens! Schaut nur! Wusst ich doch, dass er sich die Verhandlung gegen den Kerl nicht entgehen lässt.«
John Sideblossom ließ seinen schwarzen Hengst an der Kutsche der Wardens
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