Im Land Der Weissen Wolke
ersten Klasse kämpfte man mit der Langeweile; schließlich waren längst alle Höflichkeiten ausgetauscht, alle Geschichten erzählt. Die Passagiere auf dem Zwischendeck schlugen sich eher mit den zunehmenden Widrigkeiten des Daseins herum. Die karge, einseitige Ernährung führte zu Krankheiten und Mangelerscheinungen, die Enge der Kabinen und das jetzt beständig warme Wetter begünstigten Ungezieferbefall. Inzwischen begleiteten Delphine das Schiff, und oft waren auch große Fische wie Haie zu sehen. Die Männer im Zwischendeck schmiedeten Pläne, sie mittels Angeln oder Harpunen zu erlegen, waren dabei aber nur selten erfolgreich. Die Frauen sehnten sich nach einem Mindestmaß an Hygiene und fingen bei Regen Wasser auf, um ihre Kinder und ihre Kleider zu waschen. Helen fand das Ergebnis allerdings unbefriedigend.
»In der Brühe werden die Sachen eher noch schmutziger!«, schimpfte sie mit Blick auf das in einem der Rettungsboote gesammelte Wasser.
Gwyneira zuckte die Achseln. »Immerhin müssen wir es nicht trinken. Und wir haben Glück mit dem Wetter, sagt der Kapitän. Bisher keine Flaute, obwohl wir langsam in der ... in der ... Kalmenzone sind. Da weht der Wind oft nicht so, wie er soll, und manchmal geht den Schiffen das Wasser aus.«
Helen nickte. »Die Matrosen erzählen, man nenne die Gegend auch ›Rossbreiten‹. Weil man früher oft die Pferde geschlachtet hat, die an Bord waren, um nicht zu verhungern.«
Gwyneira schnaubte. »Bevor ich Igraine schlachte, esse ich die Matrosen!«, erklärte sie. »Aber wie gesagt, wir scheinen Glück zu haben.«
Leider sollte das Glück der Dublin bald ausgehen. Zwar wehte der Wind weiterhin, dafür aber bedrohte eine tückische Krankheit das Leben der Passagiere. Zunächst klagte nur ein Matrose über Fieber, was niemand sehr ernst nahm. Der Schiffsarzt erkannte die Gefahr erst, als ihm die ersten Kinder mit Fieber und Ausschlag vorgestellt wurden. Dann aber breitete sich die Krankheit wie ein Lauffeuer auf dem Zwischendeck aus.
Helen hoffte anfangs, ihre Mädchen würden verschont bleiben, da sie außerhalb der täglichen Schulstunden wenig mit den anderen Kindern in Berührung kamen. Dank Gwyneiras Zuwendungen und Daphnes regelmäßiger Beutezüge in Kuh-und Hühnerställe waren sie zudem in einem erheblich besseren Allgemeinzustand als die anderen Auswandererkinder. Dann aber bekam Elizabeth Fieber, kurz darauf auch Laurie und Rosemary. Daphne und Dorothy erkankten nur leicht, und Mary steckte sich erstaunlicherweise nicht an, obwohl sie die ganze Zeit mit ihrem Zwilling die Koje teilte, Laurie eng umschlungen hielt und sie schon mal im Vorfeld beweinte. Dabei verlief das Fieber bei Laurie glimpflich, während Elizabeth und Rosemary mehrere Tage zwischen Leben und Tod schwebten. Der Schiffsarzt behandelte sie wie alle anderen Erkrankten mit Gin, wobei die jeweiligen Erziehungsberechtigten selbst entscheiden konnten, ob das Mittel innerlich oder äußerlich verabreicht werden sollte. Helen entschied sich für Waschungen und Umschläge und erreichte damit immerhin, dass die kranken Mädchen ein wenig Kühlung erfuhren. In den meisten Familien wanderte der Schnaps dagegen in die Mägen der Väter, und die ohnehin schon gereizte Stimmung wurde noch explosiver.
Schließlich starben zwölf Kinder an der Seuche, und wieder einmal beherrschten Weinen und Klagen das Zwischendeck. Immerhin hielt der Kapitän eine sehr ergreifende Totenmesse auf dem Hauptdeck, zu der ausnahmslos alle Passagiere erschienen. Gwyneira, der die Tränen übers Gesicht strömten, spielte Piano, wobei ihr guter Wille ihre Fähigkeiten deutlich überstieg. Ohne Noten war sie hilflos. Schließlich übernahm Helen das Spielen, und einige der Zwischendeckpassagiere holten ebenfalls ihre Instrumente. Der Gesang und das Weinen der Menschen klangen weit übers Meer, und zum ersten Mal vereinten sich die reichen und armen Auswanderer zu einer Gemeinschaft. Man trauerte zusammen, und noch Tage nach der Messe war die Stimmung allgemein gedämpfter und friedfertiger. Der Kapitän, ein ruhiger und lebenskluger Mann, setzte die Sonntagsgottesdienste daraufhin grundsätzlich für alle auf dem Hauptdeck an. Das Wetter stellte dabei kein Problem mehr da. Es war eher zu heiß als zu kalt und regnerisch. Nur bei der Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung kam es noch einmal zu einem Sturm und schwerer See; danach verlief die Reise wieder ruhig.
Helen übte inzwischen Kirchenlieder mit ihren Schulkindern
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