Im Land Der Weissen Wolke
Seife musste aus Christchurch oder gleich aus England importiert worden sein. Angenehme Düfte verströmte auch ein Schälchen mit getrockneten Blütenblättern, das in ihrem Salon aufgestellt war. Kein Zweifel – selbst eine perfekte Hausfrau vom Schlage ihrer Mutter oder ihrer Schwester Diana hätte die Zimmer nicht einladender herrichten können als ... Lucas Warden? Gwyneira konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein Mann für all diese Pracht verantwortlich sein sollte!
Inzwischen hielt sie es vor Spannung kaum mehr aus. Sie sagte sich, dass sie ja nicht bis zur Teezeit warten müsse; vielleicht saßen Lucas und Gerald längst im Salon. Gwyneira suchte sich den Weg über die mit kostbaren Teppichen ausgelegten Flure zur Treppe – und hörte aufgebrachte Stimmen, die aus den Wohnräumen durch das halbe Haus klangen.
»Kannst du mir sagen, warum du ausgerechnet heute diese Weiden kontrollieren musstest?«, donnerte Gerald. »Hätte das nicht Zeit bis morgen gehabt? Die Kleine wird noch denken, du machst dir nichts aus ihr!«
»Entschuldige, Vater.« Die Stimme klang ruhig und kultiviert. »Aber Mr. McKenzie hat einfach nicht locker gelassen. Und es war dringlich. Die Pferde sind bereits dreimal ausgebrochen ...«
»Die Pferde sind was? «, brüllte Gerald. »Dreimal ausgebrochen? Das heißt, ich habe die Männer drei Tage lang nur dafür bezahlt, ihre Gäule wieder einzufangen? Warum hast du nicht früher eingegriffen? McKenzie wollte doch sicher gleich reparieren, oder? Und da wir schon beim Thema Pferche sind – warum war in Lyttelton nichts für die Schafe vorbereitet? Ohne deine zukünftige Frau und ihre Hunde hätte ich die Nacht damit verbringen müssen, die Viecher selbst zu bewachen!«
»Ich hatte viel zu tun, Vater. Mutters Porträt für den Salon sollte doch fertig werden. Und ich musste mich um Lady Gwyneiras Räume kümmern.«
»Lucas, wann lernst du endlich, dass Ölbilder nicht weglaufen, ganz im Gegensatz zu Pferden! Und was Gwyneiras Räume angeht ... du hast ihre Zimmer eingerichtet?« Gerald schien das ebenso wenig fassen zu können wie Gwyneira selbst.
»Wer hätte es denn sonst tun sollen? Eins der Maori-Mädchen? Dann hätte sie wohl Palmenmatten und eine offene Feuerstelle vorgefunden!« Lucas klang jetzt ebenfalls ein wenig aufgebracht. Allerdings nur so weit, wie ein Gentleman sich in Gesellschaft gerade noch gehen ließ.
Gerald seufzte. »Also gut, hoffen wir, dass sie es zu schätzen weiß. Jetzt lass uns nicht streiten, sie muss jeden Augenblick herunterkommen ...«
Gwyneira beschloss, dies als ihr Stichwort anzusehen. Gemessenen Schrittes, die Schultern gestrafft und den Kopf hoch erhoben, stieg sie die Treppe herunter. Solche Auftritte hatte sie für ihren Debütantinnenball tagelang geübt. Jetzt hatte sie endlich Verwendung dafür.
Den Männern im Salon verschlug es erwartungsgemäß die Sprache. Vor dem Hintergrund der dunklen Treppe erschien Gwyneiras zarte, in hellblaue Seide gehüllte Gestalt wie einem Ölbild entstiegen. Ihr Gesicht leuchtete hell, die Haarsträhnen, die es umspielten, wirkten im Licht der Kerzen im Salon wie gesponnene Gold-und Kupferfäden. Gwyneiras Mund umspielte ein schüchternes Lächeln. Die Augen hatte sie ein wenig niedergeschlagen, was sie aber nicht davon abhielt, zwischen ihren langen roten Wimpern hervorzuspähen. Sie musste einfach einen Blick auf Lucas werfen, bevor sie ihm förmlich vorgestellt wurde.
Was sie sah, machte es ihr dann aber schwer, die würdevolle Haltung zu wahren. Beinahe hätte sie sich dazu hinreißen lassen, Augen und Mund aufzusperren, um dieses perfekte Exemplar der Gattung Mann hemmungslos anzustarren.
Gerald hatte bei Lucas’ Schilderung nicht übertrieben. Sein Sohn war der Inbegriff eines Gentlemans und obendrein mit allen Attributen männlicher Schönheit gesegnet. Der junge Mann war hochgewachsen, deutlich größer als Gerald, und schlank, aber muskulös. Er hatte nichts von der Schlaksigkeit des jungen Barrington oder der kraftlosen Zartheit eines Vikar Chester. Lucas Warden trieb zweifellos Sport, wenn auch nicht so exzessiv, dass er den muskelbepackten Körper eines Athleten bekommen hatte. Sein schmales Gesicht wirkte durchgeistigt, vor allem aber ebenmäßig und edel. Gwyneira fühlte sich an die Statuen griechischer Götter erinnert, die den Weg zu Dianas Rosengarten säumten. Lucas’ Lippen waren fein geschnitten, weder zu breit und sinnlich, noch schmal und verkniffen. Seine Augen waren klar
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