Im Land Der Weissen Wolke
sich jetzt blindlings hineinstürzen? Helen überschlug fieberhaft die Alternativen. Bei den Baldwins konnte sie nicht länger wohnen; die würden nicht verstehen, warum sie Howard vertröstete. Und Howard selbst würde eine Verzögerung als Ablehnung betrachten und sich vielleicht gänzlich zurückziehen. Und dann? Eine Anstellung an der hiesigen Schule – was noch keineswegs sicher war? Kinder wie Belinda Baldwin unterrichten und dabei langsam zur alten Jungfer werden? Das konnte sie nicht riskieren. Howard war vielleicht nicht ganz das, was sie sich vorgestellt hatte, aber er war geradeheraus und ehrlich, bot ihr ein Haus und eine Heimat, wünschte sich eine Familie und arbeitete hart, um seine Farm voranzubringen. Mehr konnte sie nicht verlangen.
»Gut, Mr. Howard. Aber einen oder zwei Tage Vorbereitung müssen Sie mir schon geben. So eine Hochzeit ...«
»Wir werden selbstverständlich eine kleine Feier ausrichten!«, erklärte Mrs. Baldwin zuckersüß. »Sicher möchten Sie Elizabeth und die anderen Mädchen, die in Christchurch geblieben sind, dabeihaben. Ihre Freundin Miss Silkham ist ja wohl schon abgereist ...«
Howard runzelte die Stirn. »Silkham? Etwa diese Adlige? Diese Gwenevere Silkham, die den Sohn vom alten Warden heiraten soll?«
»Gwyneira«, berichtigte Helen. »Genau die. Wir haben uns während der Überfahrt angefreundet.«
O’Keefe wandte sich ihr zu, und sein eben noch freundliches Gesicht verzerrte sich vor Wut.
»Damit eins klar ist, Helen – eine Warden wirst du in meinem Haus nicht empfangen! Nicht solange ich lebe! Halte dich ja fern von dieser Sippe! Der Alte ist ein Gauner, und der Junge ein Schlappschwanz! Und das Mädel wird auch nicht besser sein, sonst ließe es sich nicht kaufen! Diese ganze Brut gehört ausgemerzt! Also wage es ja nicht, sie auf meine Farm zu holen! Ich hab zwar nicht das Geld von dem Alten, aber meine Flinte schießt genauso scharf!«
Gwyneira machte jetzt seit zwei Stunden Konversation, was sie mehr anstrengte, als hätte sie diese Zeit im Sattel oder auf dem Hundeplatz verbracht. Lucas Warden handelte nacheinander alle Themen ab, über die zu reden man ihr im Salon ihrer Mutter vermittelt hatte, aber er stellte deutlich höhere Ansprüche als Lady Silkham.
Dabei hatte die Sache ganz gut angefangen. Den Tee einzuschenken war Gwyneira formvollendet gelungen – und das, obwohl ihre Hände immer noch zitterten. Lucas’ erster Anblick war einfach zu viel für sie gewesen. Inzwischen aber beruhigte sich ihr Herzschlag. Schließlich gab der junge Gentleman ihr ja keinen Anlass zu weiterer Erregung. Er machte keine Anstalten, sie begehrlich anzusehen, ihre Finger wie beiläufig zu streifen, während beide – rein zufällig – nach der Zuckerdose griffen, oder ihr auch nur einen Herzschlag zu lange in die Augen zu schauen. Stattdessen ruhte Lucas’ Blick während der Konversation lehrbuchgerecht auf ihrem linken Ohrläppchen, und seine Augen leuchteten nur dann gelegentlich auf, wenn er eine besonders drängende Frage stellte.
»Ich hörte, Sie spielen Piano, Lady Gwyneira. Woran haben Sie zuletzt gearbeitet?« »Oh, ich beherrsche das Piano höchst unvollständig. Ich spiele nur zum Spaß, Mr. Lucas. Ich ... ich fürchte, ich bin entsetzlich unbegabt ...« Verlegener Blick von unten nach oben, leichtes Stirnrunzeln. Die meisten Männer hätten das Thema jetzt mit einem Kompliment abgetan. Nicht so Lucas.
»Das kann ich mir nicht vorstellen, Mylady. Nicht, wenn es Ihnen Vergnügen bereitet. Alles, was wir mit Freude tun, wird uns auch gelingen, davon bin ich überzeugt. Kennen Sie das ›Notenbüchlein‹ von Bach? Menuette und Tänze – das würde zu Ihnen passen!« Lucas lächelte.
Gwyneira versuchte sich zu erinnern, wer die Etüden komponiert hatte, mit denen Madame Fabian sie gequält hatte. Immerhin hatte sie den Namen Bach schon einmal gehört. Hatte der nicht Kirchenmusik komponiert?
»Sie denken bei meinem Anblick also an Choräle?«, fragte sie schalkhaft. Vielleicht ließ die Unterhaltung sich ja auf die Ebene eines lockeren Austausches von Komplimenten und Neckereien herabziehen. Das hätte Gwyneira sehr viel besser gelegen als ein Gespräch über Kunst und Kultur. Lucas sprang allerdings nicht darauf an.
»Warum nicht, Mylady? Choräle sollten das Jubeln der Engelsscharen zu Gottes Lob nachempfinden. Und wer wollte Gott nicht preisen für ein so wunderschönes Geschöpf wie Sie? Dabei fasziniert mich bei Bach besonders die fast
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