Im Land Der Weissen Wolke
mathematische Klarheit der Komposition, vereint mit einer zweifellos tief empfundenen Gläubigkeit. Natürlich kommt die Musik erst im entsprechenden Rahmen wirklich zur Geltung. Was gäbe ich dafür, einmal einem Orgelkonzert in einer der großen Kathedralen Europas lauschen zu dürfen! Das ist ...«
»Erleuchtend«, bemerkte Gwyneira.
Lucas nickte enthusiastisch.
Nach der Musik begeisterte er sich für die zeitgenössische Literatur, allen voran für die Werke Bulwer-Lyttons – »Erbaulich«, kommentierte Gwyneira –, um dann auf sein Lieblingsthema einzugehen, die Malerei. Dabei begeisterte er sich sowohl für die mythologischen Motive der Renaissancekünstler – »Erhaben«, kommentierte Gwyn – als auch für das Licht-und Schattenspiel in den Werken von Velasquez und Goya. »Erfrischend«, improvisierte Gwyneira, die noch nie davon gehört hatte.
Nach zwei Stunden schien Lucas begeistert von ihr, Gerald kämpfte offensichtlich mit der Müdigkeit, und Gwyneira wollte nur noch weg. Schließlich griff sie sich leicht an die Schläfe und sah die Männer entschuldigend an.
»Ich fürchte, ich bekomme Kopfschmerzen nach dem langen Ritt und jetzt der Wärme am Kamin. Ich sollte ein wenig an die frische Luft ...«
Als sie Anstalten machte, sich zu erheben, sprang auch Lucas sofort auf. »Natürlich, Sie werden sich ausruhen wollen vor dem Dinner. Es war meine Schuld! Wir haben die Teestunde zu sehr ausgedehnt, bei dieser anregenden Konversation.«
»Eigentlich möchte ich lieber einen kleinen Spaziergang machen«, meinte Gwyneira. »Nicht weit, nur zu den Ställen, auch um nach meinem Pferd zu sehen.«
Cleo tanzte bereits begeistert um sie herum. Auch die Hündin hatte sich gelangweilt. Ihr vergnügtes Bellen weckte Geralds Lebensgeister.
»Du solltest mitgehen, Lucas«, forderte er seinen Sohn auf. »Zeig Miss Gwyn die Ställe, und pass auf, dass die Viehtreiber sie nicht lüstern angrinsen.«
Lucas blickte indigniert. »Bitte nicht solche Ausdrücke im Angesicht einer Lady ...«
Gwyneira bemühte sich, rot zu werden, doch im Grunde suchte sie eher nach einer Ausrede, Lucas’ Begleitung abzulehnen.
Lucas hatte zum Glück ebenfalls Bedenken. »Ich weiß nicht, Vater, ob ein solcher Ausgang nicht die Grenzen des Anstands überschreitet«, fügte er hinzu. »Ich kann mich unmöglich allein mit Lady Gwyneira in den Pferdeställen aufhalten ...«
Gerald schnaubte. »In den Pferdeställen herrscht jetzt wahrscheinlich ein Betrieb wie im Pub! Bei dem Wetter hängen die Treiber doch im Warmen rum und spielen Karten!« Am späten Nachmittag hatte Regen eingesetzt.
»Eben deshalb, Vater. Morgen würden sie sich die Mäuler darüber zerreißen, dass die Herrschaft sich zu unschicklichen Handlungen in die Ställe zurückzieht.« Lucas wirkte allein bei dem Gedanken, Gegenstand eines solchen Gerüchts zu werden, unangenehm berührt.
»Oh, ich komme schon allein zurecht!«, sagte Gwyneira rasch. Sie fürchtete sich nicht vor den Arbeitern, schließlich hatte sie sich auch bei den Hirten ihres Vaters Respekt verschafft. Und die raue Sprache der Schaftreiber war ihr jetzt weitaus willkommener als weitere erbauliche Konversation mit einem Gentleman. Auf dem Weg zum Stall würde er sie womöglich zum Thema Architektur examinieren. »Und die Ställe finde ich auch.«
Eigentlich hätte sie sich gern noch einen Mantel geholt, aber jetzt verabschiedete sie sich lieber gleich, bevor Gerald irgendwelche Einwände einfielen.
»Es war äußerst er ... erquicklich, mit Ihnen zu plaudern, Mr. Lucas«, beschied sie ihren Zukünftigen mit einem Lächeln. »Sehen wir uns beim Abendessen?«
Lucas nickte und hob zu einer weiteren Verbeugung an. »Selbstverständlich, Mylady. In einer guten Stunde wird im Esszimmer serviert.«
Gwyneira lief durch den Regen. Sie durfte gar nicht daran denken, was die Nässe mit ihrem Seidenkleid anstellte. Und dabei war das Wetter vorhin noch so schön gewesen! Na ja, ohne Regen wuchs kein Gras. Das feuchte Klima ihrer neuen Heimat war ideal für die Schafzucht, und sie war ein solches Wetter ja aus Wales gewöhnt. Nur dass sie dort nicht in eleganter Garderobe durch den Schlamm gelaufen wäre, dort waren die Wege, die um die Wirtschaftsgebäude herum führten, gepflastert. Auf Kiward Station aber hatte man dies bisher versäumt: Nur die Auffahrt war befestigt. Hätte Gwyneira zu entscheiden gehabt, hätte sie eher den Platz vor den Ställen befestigen lassen als den prächtigen, jedoch eher
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