Im Land des Regengottes
überwinden. Sie werden uns in Swakopmund an Land bringen!«
Wie die Hebel einer Maschine hoben und senkten sich die Paddel der Kanus ins Meer. Die schmalen Boote schnellten schwerelos über die Brandungswellen. Vor uns warfen Matrosen Taue über die Reling. Als die Neger das Boot erreicht hatten, ergriffen sie die Enden. Einer nach dem anderen kletterte blitzschnell an Bord, die Hände am Seil, die Füße an der äußeren Schiffswand.
»Wie die Affen«, sagte ein dicker Mann neben mir mit einer Mischung aus Anerkennung und Abscheu. Er warf seinen Zigarettenstummel über Bord und spuckte aus.
»Der Staat Liberia«, fuhr Fräulein Hülshoff fort, wobei sie ihre Stimme senkte, als vertraute sie uns ein Geheimnis an, »wurde mithilfe von Christenmenschen aus den Vereinigten Staaten von Amerika gegründet. Freigelassene amerikanische Negersklaven erhielten hier Land, damit sie auf dem Kontinent ihrer Vorväter eine christliche Negerrepublik errichten konnten. Eine schöne Idee, nicht wahr?«
Ich nickte ein wenig zerstreut. Die Kru-Neger marschierten im Gänsemarsch an uns vorbei, ihre dunkle Haut glänzte vor Schweiß. Sie sah aus wie poliertes Holz, von dem das Wasser abperlte. Ob sie sich auch so anfühlte? Ich streckte meine Hand aus und zog sie im letzten Moment wieder zurück.
»Nur leider ging die Sache schief«, fuhr Fräulein Hülshoff fort. »Denn die eingeborenen Stämme im Land vertrugen sich nicht mit den Neuankömmlingen. Seit der Staatsgründung gibt es in Liberia nichts als Zank und Streit und Krieg.«
Der letzte Brandungsneger kletterte über die Reling und folgte seinen Kameraden mit leichten, federnden Schritten. Seine krausen Haare glänzten in der schräg stehenden Sonne wie Filz. Kru. Das Wort klang so geheimnisvoll. Nach Urwald und Abenteuer.
Mein Herz schlug schneller.
Die Kru-Männer verschwanden spurlos im Bauch des Schiffes. Bis wir eine knappe Woche später in Swakopmund anlegten, sahen wir sie nicht mehr wieder.
»Vielleicht sind sie nachts wieder von Bord gegangen?«, überlegte ich. »Das Schiff ist doch nicht so groß, man müsste doch einen von ihnen irgendwo sehen.«
Ich stellte mir die schwarzen Gestalten in einem der dunklen Lagerräume vor. Wie sie auf Pritschen kauernd darauf warteten, dass wir Swakopmund erreichten. Einmal träumte ich sogar davon, dass ich die Tür zum Gepäckraum öffnete und sie dort vorfand. Zuerst erkannte ich nur ihre glitzernden Augen, dann die Umrisse ihrer Körper, schwärzer als die Finsternis im Raum.
In meinem Traum zeigten die Kru keine Regung, sie starrten mich einfach nur an.
Schweißgebadet wachte ich auf.
Am Vorabend unserer Ankunft in Swakopmund hielt Pastor Cordes einen Abschiedsgottesdienst. Über die Hälfte der Passagiere würde das Schiff am nächsten Tag verlassen. Der kleine Kirchsaal war brechend voll, selbst Fräulein Hülshoff war zum Gottesdienst erschienen. Sie stand ganz hinten im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt.
Dieses Mal traten Eva und ich nicht neben sie. Eva ging zu ihrer Familie, ich stellte mich neben meine Mutter.
Pastor Cordes schlug die Bibel auf und las den einundneunzigsten Psalm: »Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. Dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.«
Die Botschaft des Psalms war so tröstlich: Hab keine Angst. Die Engel des Herrn werden über dich wachen, auch wenn deine Reise gefährlich und der Weg mühsam wird. Aber seltsamerweise erfüllten mich die Sätze nicht mit Mut und Zuversicht, sondern bewirkten genau das Gegenteil. Zum ersten Mal seit unserem Aufbruch aus der Kohlstraße bekam ich Angst. Unser Vorhaben erschien mir plötzlich fürchterlich vermessen. Ins ferne Afrika zu reisen, in ein Land, über das weder ich noch meine Mutter das Geringste wussten. Wir machen einen Fehler, dachte ich. Wenn wir nur zu Hause geblieben wären.
Ich suchte Evas Blick, aber sie schaute zu Boden, in ihre eigenen Gedanken versunken. In den letzten Tagen hatten wir oft darüber gesprochen, wann und wo wir uns wiedersehen könnten. Ob ich nicht ebenfalls nach Stellenbosch auf Evas Mädchenpensionat kommen könnte. »Frag deinen Stiefvater«, hatte Eva vorgeschlagen. »Das wäre doch traumhaft.«
Ein Abschluss auf einem Mädchenpensionat. Natürlich wäre das traumhaft. Viel zu schön, um wahr zu werden. Mir wurde auf einmal schlecht. Es war wie ein plötzlicher Rückfall in die Seekrankheit,
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