Im Land des Regengottes
Dann reichte er sie mir.
Ich wollte ablehnen, ich hatte noch nie geraucht, das gehörte sich nicht für ein Mädchen. Jedenfalls nicht für ein deutsches Mädchen. Aber wir waren nicht in Deutschland. Wir waren in Südwest. Im Großen Namaland bei den Awa-khois, den Roten Menschen. Hier galten andere Gesetze, Gesetze, die ich ständig missachtete, weil ich sie nicht kannte. Ich nahm die Pfeife und sog an dem Mundstück, das Petrus’ Lippen soeben noch umschlossen hatten. Der Pfeifenkopf glühte hell auf. Der Rauch füllte meinen Mund, meinen Rachen, meinen Hals, brannte und brachte mich fürchterlich zum Husten.
»Langsam.« Petrus Hand lag auf meinem Arm. »Nicht zu hastig, nicht zu viel.«
Ich atmete aus und tief durch, dann versuchte ich es noch einmal. Ein vorsichtiger, leichter Zug. So ging es besser.
»Und nun atme den Rauch tief in deinen Leib ein«, sagte Petrus.
Seltsamerweise musste ich plötzlich an Trude denken. Trude Emmerling, die einmal meine beste Freundin gewesen war, aber inzwischen hieß sie nicht einmal mehr Emmerling, sondern Frau Schleifer, weil sie im Juni ihren Hans geheiratet hatte. Was würde sie für Augen machen, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Ich nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und schluckte ihn, als wäre es Branntwein.
Der Rauch breitete sich in mir aus und ergriff Besitz von meinem Körper. Ich wartete auf den Husten, der nicht kam. Petrus’ Hand lag auf meinem Arm. Wie weich und warm sie sich anfühlte. Wenige Meter vor mir tanzten die jungen Nama-Männer und die Frauen klatschten und stampften dazu. Ich nahm noch einen Zug.
Mein Kopf begann sich zu weiten, es war, als ob die kühle Nachtluft in meinen Schädel drang und dort alles durcheinanderblies. Am Feuer trommelte Petrus’ Schwester Maria auf einem hohlen Baumstamm oder war es Rabea, Hannah, Martha? Nein, erkannte ich jetzt, es war gar kein Nama-Mädchen, es war Trude, geborene Emmerling, verheiratete Schleifer, deren Hände auf dem Baumstamm hämmerten. Und dort hinten lehnte Bertram an einer der Mattenhütten und blickte missbilligend zu mir herüber. Ich rieb mit beiden Fäusten über meine Augen. Nun war er weg.
Neben mir stand Petrus auf und wollte ebenfalls fort. Aber das ging nicht, Petrus durfte nicht weggehen.
Lass mich nicht allein, wollte ich ihm zurufen, aber ich schaffte es nicht, die Worte in meinem Mund zu formen und auszusprechen. Er hörte sie aber trotzdem und streckte mir seine Hand hin und zog mich hoch und dann legte er seinen Arm um mich und ging mit mir hinunter zum Konkiep.
Das Trommeln und Singen der Nama war nur noch ein leises Echo im Hintergrund meines Bewusstseins. Petrus’ Haut glänzte im Licht des Mondes, der als riesige Scheibe am Himmel stand, voll und rund wie in der Nacht, in der ich aus Bethanien geflohen war. Der Mond ist aufgegangen, die gold’nen Sternlein prangen am Himmel hell und klar, sang meine Mutter und mein Vater begleitete sie dazu auf dem verstimmten Schulklavier.
Petrus lächelte.
»Geh nicht weg«, sagte ich. »Lass mich nicht allein.«
Diesmal dachte ich die Worte nicht nur, sondern sprach sie aus. Petrus zog mich eng an sich. Dann nahm er mir die Pfeife aus der Hand, die ich immer noch festhielt, ohne es zu merken, und küsste mich. Er küsste mich zuerst auf den Mund und dann öffnete er meine Lippen mit seinen Lippen und küsste mich in meinen Mund. Ich spürte, wie meine Knie weich wurden und nachgaben. Er hielt mich aber fest umfangen, bis ich auf dem Boden lag, der weich und warm wie ein Daunenbett war. Über uns schien der Vollmond, der gleiche Vollmond, der auch auf den Friedhof in Bethanien schien, auf dem meine Mutter lag, und auf die Kohlstraße in Elberfeld.
Und Petrus küsste mich.
Ich wachte mitten in der Nacht auf, weil vor meiner Hütte ein paar Burschen grölten.
Vor der Kattel, 12 auf der ich lag, hockte eine Gestalt. Vor dem bleichen Mondlicht, das durch die Öffnung in der Vorderseite der Hütte fiel, zeichnete sich wirres Kraushaar ab, das den Kopf umwucherte wie Gestrüpp. Aber das Gesicht lag im Schatten und war nicht zu erkennen. Die Gestalt beugte sich nach vorn, zu mir herunter. Petrus, dachte ich zuerst, aber es war nicht Petrus. Es war eine Frau, die jetzt ihre Hand ausstreckte und über mein Gesicht strich. Nicht zärtlich, aber auch nicht grob. Prüfend, als wäre sie blind und wollte in der Dunkelheit meine Gesichtszüge ertasten. Ich hielt den Atem an, lag stocksteif da und gab keinen Ton von mir.
Die
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