Im Land des Roten Ahorns
Gedanke erfüllte sie mit Unruhe, wenn nicht sogar Angst. Selbst wenn sie es sich anders überlegen sollte, könnte sie nicht mehr nach Hamburg zurückkehren. Das Geld, das sie von Petersen erhalten hatte, würde vielleicht für die Rückreise reichen. Doch was dann?
Nachdem das Schiff die Wartenden hinter sich gelassen und die offene Nordsee erreicht hatte, legte sich Jaquelines Aufregung ein wenig. Während sich die anderen Passagiere zerstreuten, blieb sie noch eine Weile stehen und blickte aufs Meer hinaus.
Die Schreie der Möwen über ihr klangen plötzlich nicht mehr wie Abschiedsgrüße, sondern wie die Aufforderung, nach vorn zu sehen. Mit dem festen Vorsatz, dies von nun an zu tun, kehrte Jaqueline in ihre Kabine zurück.
2
Der Himmel war strahlend blau, und nur vereinzelte Schäfchenwolken trieben dahin, als die Taube in den Hafen von Boston einlief. Wie viele andere Passagiere stand Jaqueline auf dem Oberdeck, um einen ersten Blick auf die Stadt zu werfen.
Es ist, als hieße uns die neue Welt willkommen, dachte sie, und plötzlich spürte sie Zuversicht. Von weitem hat Boston große Ähnlichkeit mit Hamburg, denn auch hier recken sich hinter den Hafenanlagen zahlreiche Kirchtürme in die Höhe.
Unwillkürlich fröstelte Jaqueline. Aber sie achtete nicht auf die Winterkälte. Mit allen Sinnen sog sie die neuen Eindrücke in sich auf: die Rufe der Matrosen, die soeben die dicken Taue auswarfen, das Geschrei der Möwen, denen einige Mitreisende Brot zuwarfen, das Gequengel der Kinder, die es gar nicht erwarten konnten, an Land zu gehen. Fischgeruch strömte in ihre Nase und mischte sich mit dem beißenden Gestank einer nahen Fabrik. Doch das machte ihr nichts aus.
Jaqueline konnte gar nicht glauben, dass die Reise nun hinter ihr lag. Wehmut stieg in ihr auf. Wie schön wäre es gewesen, diese Reise mit Vater zu machen! Er hätte mir sagen können, was mich erwartet, dachte sie seufzend, doch dann war es, als flüstere ihr eine innere Stimme zu: Würde es einer Forscherin gefallen, wenn sie alles schon vorher wüsste? Wenn es nichts mehr zu entdecken gäbe?
Als ein Ruf ankündigte, dass die Passagiere gleich von Bord gehen könnten, schob Jaqueline die Angst vor dem Ungewissen beiseite und holte ihr Gepäck aus der Kabine. Vor lauter Aufregung flatterte ihr Puls, und ihre Hände wurden feucht. In der freien Hand hielt sie die kleine Fotoplatte, die sie von Warwick erhalten hatte. Wieder und wieder hatte sie sein Porträt während der Überfahrt betrachtet und sich zuweilen auch Träume von einer Zukunft mit ihm gestattet. Doch die hatte sie wieder beiseitegeschoben. Woher weiß ich denn, ob er mich überhaupt als Ehefrau will? Außerdem bin ich hier, um ein neues Leben zu beginnen. Eines, das ich selbst bestimme.
Wird Alan da sein?, fragte sie sich nun, während sie durch den engen Korridor eilte.
Dort musste sie erst einmal innehalten, denn ein Mann mühte sich mit einem riesigen Schrankkoffer an ihr vorbei. Zwei Passagiere folgten ihm und musterten Jaqueline abschätzig. Ihr war klar, dass es sich bei dem Kofferträger um einen Diener handelte. Seine Herrschaft, die ihm folgte, trug weitaus bessere Kleider als er und auch als sie selbst.
Als alle an ihr vorüber waren, schloss sie sich ihnen an. Auf der Treppe schien sich mit jeder Stufe, die sie erklomm, ihr Puls zu beschleunigen.
Oben drängten sich zahlreiche Reisende, sodass es eine Weile dauerte, bis sie die Gangway erreichte. Endlich konnte sie auf den Kai sehen, doch weil es dort von Wartenden nur so wimmelte, war es unmöglich, eine bestimmte Person auszumachen. Da die Menge hinter ihr drängte, beeilte Jaqueline sich, die Landungsbrücke zu überwinden.
Es war merkwürdig, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Nach dem langen Aufenthalt auf einem Schiff hatte sie das Gefühl, dass auch der Kai schwankte.
Suchend blickte Jaqueline sich um. Wie soll ich Warwick in dieser Menge nur finden?, fragte sie sich. Ihr wurde plötzlich heiß und kalt. Was ist, wenn er gar nicht gekommen ist?
»Aus dem Weg!«, donnerte da hinter ihr eine Stimme.
Jaqueline wirbelte herum. Eine Haarlocke versperrte ihr die Sicht. Sie strich sie beiseite.
Durch eine Traube von Wartenden drängte sich rücksichtlos ein schlanker, dunkelhaariger Mann. Eine Frau, die er grob beiseitegestoßen hatte, schickte ihm einen empörten Ausruf hinterher, doch das schien ihn nicht zu kümmern. Ohne Entschuldigung setzte er seinen Weg fort.
Was für ein Rüpel!,
Weitere Kostenlose Bücher