Im Land des Roten Ahorns
zusammenballten.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen rauf. Sie wollen doch bestimmt etwas von der Landschaft sehen und sich nicht gleich unter der Plane verkriechen.«
Jaqueline fehlten die Worte. Immer noch wirbelten die schlimmsten Befürchtungen durch ihren Kopf. Also ließ sie es geschehen, dass Warwick sie so diskret wie möglich auf den Kutschbock hob.
Nachdem er ihre Tasche aufgeladen hatte, kletterte er auf den Nebensitz. Lächelnd ergriff er Zügel und Peitsche und trieb die Tiere an.
Der Ruck, mit dem die Pferde lospreschten, steigerte Jaquelines Unwohlsein nur noch. Ihr Magen zog sich zusammen. Was, wenn die Tiere durchgehen? Ein Schwindel erfasste sie, und instinktiv suchte sie Halt an Warwicks Arm.
Ihm schien es nichts auszumachen. Er ließ die Peitsche über dem Gespann knallen und lächelte frohgemut.
Sie passierten den Hafen und fuhren eine Weile durch Häuserzeilen, die Jaqueline an Hamburg erinnerten. Doch dieser Eindruck verschwand schnell, als sie sich dem Stadtrand näherten. Hier dominierten fast nur noch Holzbauten, die aus geschwärzten Bohlen zusammengefügt waren.
Jaqueline hatte sich inzwischen an das flotte Tempo gewöhnt, und sie entspannte sich ein wenig. Sie beobachtete Frauen beim Wäscheaufhängen und musste über die langen roten Einteiler schmunzeln, die den Männern vermutlich als Unterwäsche dienten. Ein paar Kinder spielten Fangen. Jaqueline amüsierte das Treiben, bis zwei Kinder auf die Straße stürmten, ohne zur Seite zu blicken. Entsetzt schrie sie auf, worauf Warwick sogleich die Zügel anzog.
»Brrr!«
Nicht einmal eine Handbreit vor den Kindern kamen die Pferde zum Stehen.
»Verflixte Lause ...« Warwick unterbrach sich.
Offenbar war ihm bewusst geworden, dass er eine Dame neben sich hatte.
»Verschwindet!«, fuhr er die Jungen an, die seinem Befehl sogleich Folge leisteten.
»Jedes Mal dasselbe!«, setzte er knurrend hinzu. »In ihrem Übermut achten diese Gören nicht auf das, was um sie herum geschieht.«
Jaqueline zitterte noch immer vor Schreck.
3
Während der ersten Etappe der Reise gen Norden bezog sich der Himmel, bis nur noch ein schmaler Streif Sonnenlicht am Horizont leuchtete. Der Wind frischte auf und schnitt Jaqueline so schmerzhaft in die Wangen, dass sie sich noch tiefer in den Mantel kuschelte.
»Wenn Sie auf die Ladefläche klettern, finden Sie Wolldecken«, sagte Warwick, während er die Pferde zügelte. Der Schnee auf dem Weg war überfroren, und die Braunen liefen Gefahr auszurutschen, wenn sie zu schnell angetrieben wurden. Hin und wieder schlingerte der Wagen, wenn die Räder auf dem Eis keinen Halt fanden.
Jaqueline zitterte, als sie nach hinten zu klettern versuchte. Schließlich hatte sie es geschafft. Da Warwick nur ein paar Kisten geladen hatte, fand sie die Decken sofort. Sie bot Warwick eine davon an, doch der schüttelte den Kopf.
»Danke, ich brauche keine. Ich bin die Kälte gewohnt.«
Jaqueline kam sich plötzlich verzärtelt vor. Ob ich mich jemals an diese Kälte gewöhne?, fragte sie sich bang, während sie sich eine Decke um die Schultern legte und die andere über die Beine breitete. Ein Geruch nach Pferd und Holz stieg von ihnen auf, aber das war immerhin besser, als mit den Zähnen zu klappern.
Als ihre Glieder wieder ein wenig Wärme fühlten, entspannte Jaqueline sich und betrachtete die Landschaft. Die verschneiten Wälder waren dichter als die in ihrer Heimat. Wie ein Teppich bedeckten sie die Hänge der majestätischen Berge. Die Schneehauben der Gipfel schienen mit dem blassen Himmel zu verschmelzen. Wie die Berge wohl aussehen, wenn das Wetter klar ist?, fragte Jaqueline sich, als ein schriller Ruf über dem Wagen sie erschreckte. Ein riesiger Vogel mit braunen Schwingen schwebte direkt über ihnen. Als er sich aus der Höhe ein wenig tiefer schraubte, erkannte Jaqueline einen weißen Kopf und eine weiße Brust. Ein Weißkopfseeadler!
Sofort wanderten Jaquelines Gedanken wieder zu ihrem Vater, der ihr voller Begeisterung von diesen Greifvögeln erzählt hatte. Damals hatte sie sich nicht vorstellen können, dass deren Flügelspanne nicht selten die Größe eines erwachsenen Mannes aufwies.
Unweit von ihnen brach plötzlich ein Schneehase durch das Gebüsch und rannte, wilde Haken schlagend, vor ihnen davon. Der Adler flog sogleich hinter ihm her und verschwand schließlich zwischen Baumkronen.
»Wenn wir Glück haben, sehen wir heute auch noch Bären und Wölfe«, erklärte Warwick.
»Das nennen Sie
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