Im Land des Roten Ahorns
nebenan.
Der kleine Raum verströmte schon beim Betreten pure Gemütlichkeit. Marie Petersen hatte ein Faible für Handarbeit. Aufwendige Stickbilder schmückten die Wände, Klöppelspitze säumte die Tischdecke, und das wärmende Plaid, das sie sich in Mußestunden über die Knie legte, war ebenfalls eine Eigenkreation. Neben dem ausladenden Ohrensessel, der für gewöhnlich ihr Platz war, stand ein Körbchen mit Strickzeug.
Schon seit Wochen strickte Marie Leibchen und Jäckchen für ihr Ungeborenes. Gegenüber Jaqueline hatte sie einmal erwähnt, dass sie sich ein Mädchen wünsche, dennoch hatte sie weiße Wolle gewählt für den Fall, dass es wieder ein Junge wurde.
Marie reichte Jaqueline einen Brieföffner und bedeutete ihr, Platz zu nehmen, bevor sie sich in ihren Lieblingssessel setzte.
Obwohl Jaquelines Knie butterweich waren, blieb sie stehen und schlitzte den Umschlag auf. Ein leichter Duft nach Zedernholz stieg ihr in die Nase, als sie den champagnerfarbenen Briefbogen auseinanderfaltete. Erschrocken wich sie zurück, als ihre Finger etwas Glattes, Kaltes spürten. Es war eine kleine Fotografie, die einen dunkelhaarigen, bärtigen Mann zeigte.
Rasch schob Jaqueline sie unter den Brief. Dann flogen ihre Augen nur so über die Zeilen in Warwicks geschwungener Schrift.
Verehrteste Jaqueline,
wieder einmal möchte ich Ihnen aufs Herzlichste für Ihren freundlichen Brief danken.
Ihr Ansinnen, eine neue Zukunft in diesem Land, das mir mittlerweile zur Heimat geworden ist, zu suchen, hat mich offen gesagt zunächst überrascht. Doch Sie sollen nicht glauben, dass ich dem abgeneigt bin. Ihr Vater war stets voller Reiselust, und ich vermute, dass Sie ihm auch in diesem Punkt ähnlich sind.
Dass Sie die weite Reise zu mir auf sich nehmen möchten, freut mich sehr. Ich versichere Ihnen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Ihnen die erste Zeit hier so angenehm wie möglich zu gestalten.
Bitte erlauben Sie mir, so frei zu sein, mich um Ausweispapiere für Sie zu kümmern. Ich weiß, dass das Prozedere der Einreise sehr langwierig sein kann. Und ich möchte nicht, dass Sie Wochen oder gar Monate in einer der Notunterkünfte verbringen müssen, in die man die Einreisenden zu stecken pflegt. Ich werde ab dem 30. März in Boston weilen und nach Ihrem Schiff Ausschau halten. Ich freue mich darauf, die geschätzte Freundin, die mich mit so zarten Worten verzaubert, endlich kennenzulernen.
Hochachtungsvoll der Ihre,
Alan Warwick
PS: Ich erlaube mir, eine Fotografie von mir beizufügen, damit Sie wissen, dass es kein dahergelaufener Strolch ist, der Sie anspricht.
Jaqueline las den Brief gleich noch einmal, betrachtete das Porträt und presste schließlich beides mit einem glücklichen Seufzer an ihr Herz.
Marie lächelte ahnungsvoll. »Der Brief ist von Ihrem Bekannten, nicht wahr?« Jaqueline nickte. Ihre Wangen glühten feuerrot. »Ja, und er hat ein Bild von sich beigefügt!« Sie reichte Marie die Fotoplatte.
Marie Petersen betrachtete das Porträt eine Weile, bevor sie es Jaqueline zurückgab. »Ein stattlicher Mann! Was für ein Glück, dass er Sie hier noch erreicht hat! Es bleibt doch dabei, dass Sie morgen abreisen, oder?«
»Ja. Ich bin froh, dass der Brief noch rechtzeitig eingetroffen ist. Mein Bekannter teilt mir mit, dass er mich in Boston abholen wird. Ich vermute, dass er mich dann zu seinem Wohnsitz nach Chatham bringen wird.«
»Sie werden mir und den Kindern fehlen, Jaqueline«, bemerkte Frau Petersen wehmütig lächelnd, während sie über ihren Bauch streichelte. »Ich wünschte, Sie könnten länger bleiben. Aber ich verstehe natürlich, dass Sie eigene Pläne haben.«
»Ich werde Ihre Familie und Ihre Freundlichkeit niemals vergessen«, versprach Jaqueline. Dann begab sie sich in die Kinderstube, um ihre Geschichte zu Ende zu erzählen, bevor sie sich ans Packen machte.
Am nächsten Morgen erhob sich Jaqueline schon in aller Frühe. Vor Aufregung hatte sie kaum geschlafen.
In der Nacht hatte sie noch einmal die Ereignisse der letzten Wochen Revue passieren lassen. Das Haus war zu einem guten Preis verkauft worden, der nicht nur die Schulden, sondern auch die Beerdigungskosten für ihren Vater und Christoph Hansen abgedeckt hatte.
Am Grab des Dieners hatte sich Jaqueline schwere Vorwürfe gemacht. Wenn ich ihn noch am Morgen nach Vaters Tod entlassen hätte, würde er vielleicht noch leben, hatte sie sich wieder und wieder gesagt, obwohl sie wusste, dass
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