Im Land des Roten Ahorns
Vater, nicht wahr?«
Jaqueline nickte der Einfachheit halber. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie sich ausgeliefert fühlte und am liebsten nach Boston zurückgekehrt wäre?
Eine schöne Abenteurerin bist du!, dachte sie. Sobald es ungemütlich wird, verzagst du.
»Ich bin sicher, dass er gutheißen würde, was Sie getan haben. In ein Abenteuer aufzubrechen ist nicht der schlechteste Weg, ein neues Leben zu beginnen.«
Jaqueline starrte nur ins Feuer, bis sich Warwicks Hand vor sie schob. Er reichte ihr ein Päckchen in Packpapier.
»Hier, essen Sie erst mal was! Danach sieht alles wieder besser aus.«
Dankbar wickelte sie ihre Mahlzeit aus, die aus getrockneten Fleischstreifen und Hartkeksen bestand. Jaqueline kannte solches Essen aus Coopers Romanen und den Erzählungen ihres Vaters. Skeptisch kostete sie zunächst von den Keksen, nach einer Weile vom Fleisch. Es war zäh wie Leder und schmeckte sehr salzig, aber sie wollte Warwick nicht beleidigen, indem sie es ausschlug.
Als sie gegessen hatten, zog Warwick zwei Schlafsäcke aus einer Kiste.
Ob er vorhat, mit mir im Wagen zu übernachten? Was, wenn er über mich herfällt, sobald ich eingeschlafen bin? Jaqueline fror plötzlich wieder. Nur mit Mühe konnte sie ein Zittern unterdrücken. Erst als Warwick mit einem Schlafsack aus dem Wagen kletterte, beruhigte sie sich ein wenig.
»Ich habe Ihnen Ihr Lager im Wagen bereitet«, erklärte er. »Ich werde neben dem Feuer schlafen.«
»Hier draußen?«, fragte Jaqueline, obwohl sie insgeheim erleichtert war. »Fürchten Sie nicht zu erfrieren?«
»Keine Sorge, mir passiert nichts! Solche Schlafsäcke benutzen auch die Cowboys und Trapper, wenn sie keine feste Unterkunft finden. Selbst wenn man über Nacht eingeschneit wird, kommt man darin nicht zu Schaden.«
Damit rollte er den Schlafsack neben dem Feuer aus.
»Ja, dann gute Nacht«, sagte Jaqueline beklommen. Konnte sie den Mann da draußen liegen lassen? Aber es war ja seine Idee, dachte sie. Von einer Dame kann er wirklich nicht erwarten, dass sie mit ihm in einem Wagen schläft.
In der Nacht tat Jaqueline beinahe kein Auge zu. Der Schlafsack schützte sie zwar weitgehend vor der Kälte, aber nicht vor den Geräuschen und vor allem nicht vor ihrer überbordenden Phantasie. Bei jedem Knacken, Knirschen und Rascheln stellte Jaqueline sich eine neue Gefahr vor. Hin und wieder fiel etwas Schnee auf die Wagenplane, was sie jedes Mal bis ins Mark erschreckte. Nachtgetier machte sich auf die Jagd, und der eindringliche Ruf eines Käuzchens erschien ihr wie die Ankündigung ihres nahenden Tods.
Mit rasendem Herzen verkroch Jaqueline sich immer tiefer in den schützenden Stoff. Alles in ihr schrie danach, ihren Begleiter zu wecken.
Ihm schienen die Geräusche nichts auszumachen, wie sein Schnarchen verriet. Oder knurrte da ein Wolf?
Was hab ich mir bloß dabei gedacht hierherzukommen?, fragte Jaqueline sich furchtsam. Wie naiv ich doch war! Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich in der Wildnis übernachten muss und dass es hier wilde Tiere gibt.
Das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Sie hatte von den Tieren gewusst und auch, dass die Jahreszeit hier alles andere als angenehm war. Aber sie hatte aufgrund des Fotos gehofft, dass Warwick der strahlende Held ihrer Träume war - und kein sehniger älterer Mann!
Als ihr schließlich doch noch die Augen zufielen, träumte sie von einem großen Wolf, der sie verfolgte. Das ausgewachsene Tier mit seinen gelb leuchtenden Augen kam ihr vor wie ein Dämon. Aus seinem Maul tropfte der Geifer, sodass Jaqueline die Tollwut fürchtete, sollte er ihre Haut auch nur mit den Zähnen streifen. Verzweifelt rannte sie durch hohe Schneewehen vor ihm davon. Als sie vor Erschöpfung hinfiel und der Graue hechelnd heransprang, schrie sie aus Leibeskräften um Hilfe.
Als sie schweißgebadet aufschreckte, geweckt vom eigenen Schrei, vernahm sie in der Ferne tatsächlich Wolfsgeheul. Im Mondlicht tanzten gespenstische Schatten auf der Plane.
Erschrocken zog Jaqueline sich eine Decke über den Kopf. Hör nicht hin!, befahl sie sich. Das ist weit weg. Du hast nur geträumt! Doch das Geheul wurde lauter. Jaquelines Zähne klapperten, während sie am ganzen Leib zitterte.
Lieber Gott, bitte, mach, dass das Geheul aufhört und es endlich Tag wird!, flehte sie stumm. Auf einmal schämte sie sich, dass sie Warwick so böse Dinge unterstellt hatte. Er lag da draußen, mitten im Schnee, und war den Wölfen ebenso wehrlos ausgeliefert
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