Im Land des Roten Ahorns
Jaqueline erneut ans Fenster. Der Lichtschein war noch immer da, aber es ertönten keine Schüsse mehr.
Obwohl sie wusste, dass ihr die Milch keine Beruhigung bringen würde, trank sie den Becher leer und legte sich wieder ins Bett. Eine Weile starrte sie noch in die Dunkelheit, bis sie in einen traumlosen Schlaf sank.
6
Als Jaqueline am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Vögel zwitscherten vor ihrem Fenster.
Du meine Güte!, dachte sie, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb. Warwick wird dich für ein Faultier halten.
Sie erhob sich, verrichtete ihre Morgentoilette und kleidete sich rasch an.
Als sie sich in dem halb blinden Spiegel betrachtete, musste sie zugeben, dass sie eigentlich sehr gut in dieses Haus passte: Ihr blaues Kleid wirkte schmuddelig und wies an den Ellbogen blanke Stellen auf. Obwohl sie sich dafür schämte, entschied sie sich dafür, es anzubehalten, da die anderen Stücke ihrer Garderobe ebenfalls ziemlich verschlissen waren.
Wenn ich erst einmal eine Anstellung gefunden habe, werde ich mir schöne neue Sachen zulegen, dachte sie. So kann ich als Gouvernante jedenfalls nicht herumlaufen.
Als sie nach unten kam, blieb es still. Offenbar war ihr Gastgeber ausgegangen.
»Mr Warwick?«, rief sie sicherheitshalber noch einmal, aber sie erhielt keine Antwort.
Auf dem Küchentisch fand sie ein Frühstück und einen Zettel vor, der Warwicks Abwesenheit erklärte.
»Bin nach St. Thomas geritten, um mich um Ihre Papiere zu kümmern«, stand dort. Das versöhnte Jaqueline ein wenig mit den Zuständen im Haus.
Immerhin kümmert er sich wie versprochen um meine Angelegenheiten, dachte sie. Vielleicht gibt es doch Seiten an ihm, die zu seinen gefühlvollen Briefen passen.
Erleichtert darüber, dass ihr Kleid nicht Warwicks prüfenden Blicken standhalten musste, setzte sie sich an den Tisch und machte sich über den Haferbrei her, der mit Zucker und Zimt recht passabel schmeckte. Außerdem hatte er ihr auch noch etwas von dem Gebäck hingestellt, das sie auf dem Weg hierher gegessen hatten.
Der Kaffee, der ziemlich stark war, vertrieb auch den letzten Rest von Jaquelines Müdigkeit und weckte ihren Unternehmungsgeist.
Da die Sonne schien, beschloss sie, nach dem Frühstück den verwilderten Garten zu erkunden und einen kleinen Spaziergang zu machen. Auf dem Weg hierher hatte sie einige wunderschöne Bäume entdeckt. Außerdem war es möglich, dass unter den Schneeresten die ersten Frühblüher die Köpfe emporreckten. Bei dem Gedanken an violette Krokusse, die es hier vielleicht auch gab, lächelte Jaqueline.
Nachdem sie das Geschirr gespült hatte, kehrte sie in ihr Zimmer zurück, um ihren Mantel zu holen. Dann ging sie frohgemut nach unten.
Nanu, die Haustür war abgeschlossen! Überrascht trat Jaqueline zurück. Er wird mich doch nicht eingesperrt haben?
Da der Schlüssel nicht steckte und sie auch keinen fand, machte sie sich auf die Suche nach einem zweiten Ausgang.
Warwick hatte erwähnt, dass das Anwesen einst einer wohlhabenden Familie gehört hatte. Also hatte es sicher auch Dienstboten gegeben, die in der Regel über einen eigenen Eingang zu ihren Quartieren verfügten.
Ein Stich durchzog sie bei diesem Gedanken, denn plötzlich sah Jaqueline wieder Christoph vor sich. Christoph, der seinen Mut, sie zu schützen, mit dem Leben bezahlen musste. Christoph, der nicht von ihr fortgehen wollte ...
Als es ihr endlich gelang, ihre Trauer abzuschütteln, ging sie in die Küche zurück und sah sich genauer um. Und tatsächlich, hinter einem Vorhang verbarg sich ein Gang, der in einen Raum führte, der früher wohl einmal als Waschküche gedient hatte. Hier schlug ihr die Luft besonders kalt entgegen, sodass ihr Atem zu einer kleinen Wolke gefror. Die Wände hatten sich mit dem Geruch nach Kernseife und Waschlauge vollgesogen. Doch die Wanne und die Wäschemangel starrten vor Schmutz und wurden offensichtlich nicht mehr benutzt. Ließ Warwick seine Wäsche in der Stadt waschen? Oder hatte er vielleicht doch jemanden, der sich sporadisch um seinen Haushalt kümmerte?
Schließlich fand Jaqueline eine Tür, die wie der Dienstbotenausgang wirkte. Auch sie war verschlossen. Einen Schlüssel entdeckte sie nicht.
Die Verärgerung wich einem mulmigen Gefühl.
Ist dieser Mann wirklich Warwick? Oder hat sich in diesem Haus nur jemand eingenistet, der sich für Warwick ausgibt? Jaqueline verwarf den Gedanken sofort wieder. Er war wirklich zu
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