Im Land des Roten Ahorns
aber er hat nicht über mich zu bestimmen, dachte sie, während sie schweigend weiteraß.
Nach dem Abendessen schlug Warwick vor, ihr einige Landkarten zu zeigen, die er ihrem Vater abgekauft hatte. Ein Vorschlag, auf den Jaqueline nur allzu gern einging. Ihr Herz schlug höher bei der Erinnerung an ihren geliebten Vater, und sie freute sich darauf, etwas mehr aus seinem Kartografenleben zu erfahren.
»Ihr Vater war wirklich ein Genie, Miss Halstenbek«, erklärte Warwick, während er die Karten auf dem Esszimmertisch ausrollte. »Ich habe ihn auch auf seiner letzten Reise durch Kanada begleitet. Er war ganz fasziniert vom Saint Lawrence River. Und natürlich von den Großen Seen. An einem von ihnen befinden wir uns.«
Er deutete auf einen großen ovalen Fleck auf der Karte, dann auf einen kleinen Fleck, der die Stadt darstellte.
Andächtig strich Jaqueline mit dem Finger über das grobe Papier, dessen Rand mit liebevollen Naturzeichnungen geschmückt war. Es waren die gleichen großen Papierbögen, die ihr Vater in Hamburg gelagert hatte - und die die Gläubiger aus dem Haus getragen hatten.
Das muss ein Original sein, dachte sie. Unwillkürlich füllten ihre Augen sich mit Tränen.
»Woher haben Sie diese Karte?«
»Ihr Vater hatte sie mir überlassen. Es ist nur eine Kopie, aber dank dieser Karte habe ich mich in dieser Gegend noch nie verlaufen.«
Jaqueline erkannte an seinem Lächeln, dass er das scherzhaft meinte.
»Vielleicht sollten wir als Erstes diese Route nehmen und zu den Niagara Falls reisen. Ihr Vater hat Ihnen vielleicht davon erzählt.«
Jaqueline trocknete sich verstohlen die Tränen. »Ja. Mächtige Wassermassen stürzen dort in die Tiefe.«
»Das ist richtig, aber nichts kann das Gefühl wiedergeben, direkt danebenzustehen und sich das Naturschauspiel mit eigenen Augen anzusehen. Man spürt das Donnern des Wassers in der Brust, und der Dunst, der einem entgegenschlägt, legt sich feucht auf die Kleider.«
Die Vorstellung, vor den rauschenden Niagarafällen zu stehen, weckte Vorfreude bei Jaqueline. Sie konnte es kaum erwarten, sie zu sehen.
7
Auch in der folgenden Nacht schlief sie unruhig, doch diesmal hörte sie keine Schüsse. Sie wagte sich auch nicht nach unten, obwohl Warwick erneut rumorte. Gegen Mitternacht hatte sie unterschwellig das Gefühl, dass jemand in ihr Zimmer kam, doch als sie mit Herzklopfen hochschreckte, erkannte sie, dass sie allein war.
Als Jaqueline am nächsten Morgen aufwachte, hatte Warwick das Haus schon wieder verlassen. Ob sie noch einen Tag in Gefangenschaft verbringen müsste? Doch in der Küche entdeckte sie einen Schlüssel neben ihrem Frühstücksteller und einen Zettel. Für alle Fälle, stand darauf. Nachdem sie gegessen hatte, nahm sie den Schlüssel an sich und ging hinauf in ihr Zimmer.
Vielleicht sollte ich einen Spaziergang in die Stadt machen, dachte sie. Dort gibt es sicher einen Laden, in dem ich ein paar Dinge kaufen kann. Vielleicht schnappe ich ja auch etwas über Warwick und seine Geschäfte auf.
Auf der Suche nach ihrem Schal, den sie zusammen mit ihren Papieren in der Tasche aufbewahrt hatte, bemerkte Jaqueline mit Entsetzen, dass der Umschlag, in dem sie ihre Papiere und das Geld aufbewahrte, fehlte.
Habe ich ihn vielleicht versehentlich beim Auspacken herausgerissen?, fragte sie sich und suchte den Boden ab. Sogar unter das Bett kroch sie, fand aber nur ein paar dicke Staubmäuse. Vielleicht habe ich ihn versehentlich mit meiner Wäsche ins Regalfach geräumt, überlegte sie. Doch trotz fieberhafter Suche wurde sie nicht fündig.
Ist er mir vielleicht noch im Pub gestohlen worden?, fragte sie sich. Oder steckt das Kuvert noch in einem der Kleider, die ich gewaschen habe?
Jaqueline stolperte beinahe vor Aufregung, als sie die Treppe hinunter und in die Waschküche lief. Sie durchsuchte die Taschen und Falten der Kleider auf den Leinen, schaute auf den Boden und die Fensterbretter - nichts.
War es möglich, dass Warwick den Umschlag gefunden und zur Verwahrung an sich genommen hatte?
Dann hätte er ihn mir doch sicher gegeben, überlegte sie, während sie sich erschöpft gegen die Wand lehnte.
Ein böser Verdacht beschlich sie. Nein, das kann nicht sein. Warwick hat dich nicht bestohlen, Jaqueline! Das kann einfach nicht sein. Es gibt bestimmt eine ganz harmlose Erklärung dafür, redete sich ein.
Doch so recht glauben wollte sie es nicht.
Jaqueline kehrte in ihr Zimmer zurück und warf sich aufs Bett. Die Lust, in die
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