Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
vermeintlichen Sieger. Anne kannte diese Kämpfe – meist ging es um Geld oder eine Seemannsehre, deren Sinn ihr bis heute nicht ganz klar war. In ihren ersten Wochen hier war sie Augenzeugin, wie bei so einem Kampf einem Mann der Schädel eingeschlagen wurde. Sie hatte sich entsetzt nach Soldaten oder Polizisten umgesehen – irgendjemandem, der dafür sorgte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan würde.
Rose, die älteste Frau in Jamesons Diensten, hatte nur verächtlich die Nase gerümpft. »Schätzchen, für diesen Teil der Welt fühlt sich niemand zuständig. Die Briten wollen sich nach Australien nicht noch so eine Provinz an die Beine binden – und die Franzosen können sich auch nicht recht entschließen, ob sie Neuseeland haben wollen. Bis die sich entschieden haben, ist diese Gegend einfach jenseits des Gesetzes. Was hier passiert, interessiert niemanden. Wenn du jemanden den Kopf einschlägst, hast du nur ein Problem mit seiner Familie. Oder mit deinem Gewissen. Aber ganz sicher nicht mit dem Gesetz.«
Anne hatte damals nur genickt. Wer hier landete, dem konnte niemand mehr helfen. Wer sein Glück suchte, der musste das mit den eigenen Händen tun – und Frauen hatten in dieser Männerwelt eigentlich nichts verloren.
Sie wandte also ihren Blick von den beiden Kämpfern ab, drückte sich an eine Hauswand und huschte weiter in Richtung der Bar von Master Jameson. Die kleinen Zimmer, die er für seine Mädchen gebaut hatte, konnte man zwar kaum ein Zuhause nennen – aber wenigstens gab es eine Tür, die man hinter sich schließen konnte. Sie fand ihren Herrn an seinem Stammplatz an einem Ecktisch der Bar. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte sie ihm den kleinen Beutel mit Geldstücken hin. »Ich soll ausrichten, dass er zufrieden ist.« Ohne um Erlaubnis zu fragen, ging sie weiter in Richtung ihres Zimmers.
Doch schon nach wenigen Schritten pfiff er sie mit einem schrillen Ton zurück. »Habe ich dir erlaubt, dich zurückzuziehen?«
Langsam drehte Anne sich um. »Ich dachte, dass vier Tage im Dauereinsatz eine Nacht Ruhe rechtfertigen. Und ein heißes Bad – sonst muss der nächste Kunde ständig den Schweiß seines Vorgängers riechen.«
»Der eine noch, dann darfst du ausschlafen«, bellte Jameson und deutete auf einen dunkelhaarigen Mann, der sich bisher im Halbdunkel aufgehalten hatte. »Er hat extra auf dich gewartet.«
»Kann es nicht eines der anderen Mädchen sein? Eines, das heute noch keine Kundschaft hatte? Ich kann nicht mehr!«, stöhnte Anne, obwohl sie wusste, dass Jameson sich ganz sicher nicht erweichen lassen würde.
Master Jameson zeigte seine Zähne und deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf seine leere Wirtschaft. »Schätzchen, heute habe ich sogar schon die hässliche Jane an den Mann gebracht. In den letzten drei Tagen haben vier neue Walfänger hier ihre Anker geworfen. Die Männer sind so gierig, dass ich ihnen sogar eine Kuh ins Bett legen könnte. Also: Master Wilcox hat ein nettes Mädchen verdient. Zeig dein schönstes Lächeln, Anne. Und ich gebe dir den Rest des Tages frei.«
Anne seufzte. Sie wusste, zu welchen Taten Master Jameson fähig war, wenn man ihm so eine »Bitte« abschlug. Sie nickte diesem Wilcox zu und bedeutete ihm, ihr zur folgen. Wenn Jamesons Mädchen keine Besuche auf den Schiffen machten, dann empfingen sie ihre Kundschaft in Räumen, die sich direkt an die Gaststube anschlossen. Die Türen waren hinter dicken Vorhängen verborgen. Anne schob einen zur Seite und betrat entschlossen den engen Raum, der fast vollständig von einem Bett ausgefüllt war. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, drehte sie sich um. Der Mann hatte ein angenehmes Gesicht, sein Kinn war glatt rasiert und seine Haare ordentlich gestutzt. Die Schläfen waren schon grau. Seine schwarzen Augen sahen freundlich aus – nur eine hässliche Narbe, die sich über seine rechte Wange zog, sorgte dafür, dass er kein gut aussehender Mann war. Immerhin, dieser Mann war sicher nicht ganz so ekelhaft wie der Kapitän der letzten Tage. Anne musterte ihn mit unbewegtem Gesicht und fing an, sich ohne ein weiteres Wort zu entkleiden. Sie wollte es möglichst schnell hinter sich bringen – und dann endlich in ihre heiße Badewanne.
Als sie ihre Bluse von den Schultern schob, hörte sie ein erschrockenes Einatmen. Die wunden Brüste waren in dem Tageslicht, das in der Kammer herrschte, deutlich zu sehen.
Wilcox schüttelte den Kopf. »Das sieht aus, als ob es
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