Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Wen interessierte es schon, dass ich wund war, fast bewusstlos vor Schmerzen und mir das Blut die Schenkel hinunterlief? Niemanden. Und selbst mir war es irgendwann egal. Ich wollte nur noch sterben. Leider tat mir Gott auch diesen Gefallen nicht. Ich musste weiterleben, so ungern ich das auch tat.«
Anne sah den Missionar herausfordernd an. »Jetzt kennt Ihr meine gesamte Geschichte. Verurteilt Ihr mich immer noch als leichtes Mädchen, das hier in Kororareka die Männer verführt? Oder versteht Ihr jetzt endlich, dass mir in meinem Leben irgendwann die Wahl zwischen richtig und falsch genommen wurde?«
Der Schotte nickte und nestelte an einem Bändchen herum, das von seinem Hemd herunterhing. »Das habe ich wohl begriffen. Auch, dass man von diesem Ort wohl schwerlich fliehen kann. Außerhalb von Kororareka gibt es nur die Wildnis, bevölkert von Maori, die uns nicht immer wohlgesinnt sind. Was solltest du da – außer das eine Elend mit dem anderen zu vertauschen? Was ich aber nicht verstehen kann: Warum kommst du immer wieder zu mir und erzählst mir deine Geschichte?«
»Weil ich sonst mit niemandem rede«, erklärte Anne. »Ich habe mir abgewöhnt, mit irgendjemandem mehr als das Allernötigste zu sprechen. So habe ich mir den Ruf der hochnäsigen Anne erworben, der englischen Adeligen, die mit ihren Kunden nicht redet. Man kann nur meinen Körper kaufen, aber niemals meinen Geist. Auf eine merkwürdige Art scheint mich dieser Ruf zu schützen. Die meisten Männer haben Respekt vor mir. Sicher, ab und zu gibt es einen, der glaubt, dass er mich erobern könnte. Völlig lächerlich. Ich sorge dafür, dass niemand mein wahres Ich kennenlernt, der meinen Körper für ein paar Stunden mietet.«
»Wie gerne würde ich dir helfen«, seufzte Marsden. »Aber das geht wohl erst, wenn du alt, zahnlos und hässlich bist. Erst dann verzichtet Jameson auf seine Mädchen. Und du bist auch noch eine seiner besten Investitionen … Er wird dich nicht laufen lassen.«
Anne nickte. »Ich weiß. Aber vielleicht kann ich auf Euch zählen, wenn ich eines Tages die Flucht versuche? Denn ich werde nicht alt hier, egal, was alle glauben. Ich will weg. Unbedingt. Nach Australien, nach England, in die Wildnis. Was soll an den Maori denn schlimmer sein als an den Wilden, die hier regelmäßig über mich herfallen?«
»Flucht?« Marsden war etwas überrascht. »Und warum wartest du dann noch?«
»Wenn ich etwas durch meinen lächerlichen Versuch in Penang gelernt habe, dann ist es das: Man braucht Geld, um wenigstens ein bisschen Essen kaufen zu können – und sich vielleicht hin und wieder den einen oder anderen Verbündeten zu leisten. Ich kann nicht hoffen, dass ich mich am entferntesten Ende der Welt völlig ohne Freunde und Mittel durchschlagen kann. So naiv bin ich nicht mehr.« Sie streckte entschlossen ihr Kinn vor. »Außerdem musste ich auf den richtigen Verbündeten warten.«
»Mich?« Nachdenklich lehnte Marsden sich auf seinem Stuhl zurück. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie dieser Frau mit den schwarzen Locken eine Flucht gelingen könnte. Aber sie war ganz offenbar zu allem entschlossen.
»Euch auch. Aber da ist vor allem dieser Mann, der bei Jameson immer nur nach mir fragt. Er möchte keines der anderen Mädchen sehen, immer nur mich. Und wenn er dann für mich zahlt, dann kann es auch sein, dass er mir nur von seinen Geschäften erzählen will. Ich koche uns etwas, und er erzählt von seinen Plänen. Es sieht ja nicht so aus, als sei der Walfang auf Dauer ein lohnendes Geschäft.« Wenn sie nicht diese knappe Bluse und den bunten Rock tragen würde, dann hätte der Missionar sie bei diesen Worten fast für eine Geschäftsfrau gehalten, so ernst war sie bei der Sache. Er ermahnte sich selbst, ihren Worten nicht zu viel Bedeutung beizumessen.
»Und um welchen Herrn handelt es sich? Kenne ich ihn?«, fragte er stattdessen.
»Das kann ich nicht sagen, ich denke, er gehört hier zu den hoch angesehenen Herren. Ich möchte nichts riskieren, indem ich seinen Namen irgendwie beschmutze … und ich muss fürchten, dass es durchaus Schmutz ist, wenn der Name eines Mannes im gleichen Atemzug mit meinem Namen genannt wird.« Sie hob die Hände zu einer verlegenen Geste.
»Was genau willst du denn von mir? Ich verstehe immer noch nicht, welche Rolle du mir in diesem Spiel zugedacht hast.«
»Ich wollte mich nur versichern, dass Ihr auf meiner Seite steht, sollte sich irgendwann eine Gelegenheit
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