Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
dass ich nachts ins Wasser springe und in die Freiheit schwimme, hat er mich eingesperrt. Seine eigene Kajüte hatte eine Tür und ein Schloss. Beides war fest verriegelt während unserer Besuche in den Häfen von Australien.«
»Hat er sich erklärt? Irgendeine Entschuldigung abgegeben – oder etwas Ähnliches?« Der Missionar glaubte offensichtlich immer noch an das Gute im Menschen.
»Warum hätte er das tun sollen? Er kam nur noch einmal in meine Kammer – und das nur, um mir mitzuteilen, dass er wisse, wer der Verräter unter seinen Matrosen sei. Da er aber jeden Mann brauchte, hätte er davon abgesehen, ihn während der Reise härter zu bestrafen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Nach meinem Fluchtversuch hätte er mich sicher auch verprügelt. Aber ihm war klar, dass fleckige Ware minderwertig ist. Das hat mich geschützt: Er wollte mein Aussehen nicht ruinieren. Deswegen durfte ich bei meiner Ankunft in Kororareka auch als Erstes ein Bad nehmen. Ich habe es genossen. Monatelang habe ich geschwitzt, salziges Wasser verwendet und fettigen Pökelspeck gegessen. Mit einem Mal war in einem Zimmer ein heißes Bad für mich bereitet, reines Leinen, um mich abzutrocknen, und sogar ein paar frisch duftende Tropfen Manukaöl im Wasser.« Sie verharrte. Offensichtlich wollte Anne von diesem Punkt an nicht mehr weitererzählen.
»Und dann?« Mit kaum verborgener Neugier sah Marsden sie an. »Wie geht diese Übergabe vor sich? Ich sehe, dass hin und wieder neue Mädchen in den Gassen auftauchen – aber ich habe noch nie gesehen oder mitgekriegt, wie sie zu ihrem Herrn kommen.«
»Das liegt daran, dass Ihr ein guter Mann seid, lieber Master Marsden«, erklärte Anne trocken. »Würdet Ihr häufiger gegen Mitternacht in die Spelunken dieser Stadt gehen, dann wäre das Geschehen kein großes Geheimnis mehr. Es gehört ganz bestimmt zu den Höhepunkten im gesellschaftlichen Leben von Kororareka. Schließlich kommt nur zwei- bis dreimal im Jahr neue Ware an. Und sie kommt nicht immer so unfreiwillig wie ich. So manches Mädchen aus England sucht doch hier in den Kolonien nach dem großen Glück. Oder wenigstens einem Mann. Nicht wenige landen hier und suchen Arbeit. Pastetenbäckerin bei Jameson … das ist doch etwas.« Sie lachte bitter auf. »Bis einem auffällt, dass man mit Pasteten eher wenig zu tun hat, ist es zu spät. Es mag auch Geschöpfe geben, die nichts gegen dieses Leben einzuwenden haben. Ist ja schließlich keine schwere Arbeit, wenn man sich nur auf den Rücken legt und dann die Beine breit macht.« Sie sah das entsetzte Gesicht des Missionars und lachte bitter auf. »Verzeiht meine grobe Ausdrucksweise …«
»Aber wie war es bei dir? Du kannst mir den späten Besuch der Wirtshäuser ersparen …« Er sah sie auffordernd an.
»Bei mir …« Ihre Stimme wurde leiser. »Nachdem ich mich gebadet hatte, fand ich auch frische Kleidung vor. Einen Rock mit bunten Bändern, der nur wenig unter meinem Knie endete. Eine Bluse, deren letzter Knopf am Ausschnitt fehlte. Ich fand nichts anderes und freute mich darüber, dass die Sachen frisch gewaschen waren, auch wenn sie nicht unbedingt meiner Größe entsprachen. Die Kürze des Rockes schob ich sogar darauf, dass ich meine meisten Mitmenschen um einiges überrage. Wie auch immer: Ich trat also mit dieser Kleidung und meinen frisch gewaschenen Haaren vor die Tür. Ardroy pfiff anerkennend, packte mich an der Schulter und schob mich, ohne auch nur eine Sekunde zu vergeuden, in einen Gastraum, der direkt nebenan lag. Es war brechend voll, Männer drängten sich auf jeder freien Fläche, an den Tischen und am Tresen. Als ich den Raum betrat, wurde das Gepfeife und Gejohle unterträglich laut.
›Was hast du dieses Mal für uns? Eine Riesin?‹, brüllte eine Stimme.
Ein fetter Mann mit Glatze lachte zurück. ›Kann es sein, dass du ein Zwerg bist, Petey?‹
Der Lärm wurde noch lauter, unerträglich für meine Ohren. Alle starrten mich an, und unwillkürlich versuchte ich, meinen Ausschnitt etwas zuzuhalten. Ardroy schlug meine Hand weg. ›Die wollen doch was sehen, Schätzchen, da kannst du deine Juwelen nicht einfach so verbergen …‹ Bei dieser plötzlichen Bewegung riss die Bluse, rutschte über meine Schulter und entblößte eine meiner Brüste. Ich fühlte mich, als ob ich nackt vor all diesen Männern stehen würde.
Für den Bruchteil einer Sekunde war es still, doch dann brach ein wahres Inferno los. Ein Mann grabschte von der Seite nach
Weitere Kostenlose Bücher