Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Auf den ersten Blick sah dieser Ort nach dem Paradies aus. Die Luft war warm, ohne irgendwie drückend schwül oder heiß zu sein, wie er es in den letzten Monaten in den Tropen erlebt hatte. Die Bucht bot perfekten Schutz vor jeder Art Wetter, Wälder bedeckten die umliegenden Hügel – hier konnte man sicher sein Dasein auf angenehme Weise fristen. Er lächelte.
Und nur einen Augenblick später gefror ihm genau dieses Lächeln im Gesicht. Zwischen zwei Häusern kamen zwei Männer und zwei Frauen hervor, die sich zielstrebig in Richtung eines der Schiffe aufmachten. Ganz offensichtlich ging es den Männern aber nicht schnell genug. Einer von ihnen griff der Frau an seiner Seite immer wieder unter den Rock, die Bewegungen machten deutlich, dass er ihr nicht nur den Schenkel streichelte. Der Frau schien das alles andere als unangenehm zu sein. Sie lachte unentwegt schrill auf, machte anzügliche Witze und zeigte dabei die vielen Zahnlücken in ihrem Mund. Angeekelt machte Gregory einen Schritt nach hinten. Er hatte inzwischen längst auf seinen Reisen erfahren, dass Hafenstädte allerlei zwielichtiges Gesindel anzogen. Aber in den meisten Fällen – sogar in Afrika oder in Indien – war dieses gottlose Gebaren auf die Nacht beschränkt gewesen. Hier schien es niemand zu kümmern, wenn am helllichten Tag fast in aller Öffentlichkeit Unzucht getrieben wurde. Oder zumindest überaus unziemliche Berührungen stattfanden.
Verächtlich schnaubte er durch die Nase und machte sich auf, um das kleine Städtchen zu erforschen und womöglich auch schon Erkundigungen über Anne einzuholen. Es könnte ja sein, dass er der Zeuge einer einmaligen Entgleisung gewesen war und dieser Ort seinen zweifelhaften Ruf völlig zu Unrecht trug.
Diese Hoffnung musste er nach wenigen Metern fahren lassen. Erst sah er ein weiteres Paar, das sich, an eine Holzwand gelehnt, heftig küsste. Die beiden schienen ihn nicht zu sehen – und wenn er den etwas unsteten Blick des Mannes richtig deutete, dann hatte der auch genug getrunken, um noch für einige Zeit nichts von der Welt mitzubekommen. Gregory war sich nicht einmal sicher, ob dieser Mann überhaupt merkte, wie viel Mühe sich die Frau inzwischen mit seiner entblößten Männlichkeit machte.
Kopfschüttelnd ging er weiter, betrat einen etwas breiteren Weg, der offensichtlich als eine Art Hauptstraße diente. Er sah Männer im freundschaftlichen Gespräch beieinanderstehen, eine Prügelei, an der mindestens vier Männer beteiligt waren – und vor mehr als einem Haus lungerten Frauen in zerrissenen, fadenscheinigen Blusen herum. Ihre Röcke waren zu kurz und zu bunt, und der aufreizende Schwung der Hüften machte mehr als klar, zu welcher Profession sie zu rechnen waren. Gab es in diesem Kaff denn kein Viertel oder einen Straßenzug, der anständiger war?
Gregory musste sich eingestehen, dass er für die Beantwortung dieser Frage wohl jemanden fragen musste. Er räusperte sich und trat zu einem Mann, der ein merkwürdig riechendes, schmal gerolltes Blatt rauchte und dem Treiben nur zusah.
»Verzeiht, könnt Ihr mir sagen, wo sich die anständigen Bürger von Kororareka aufhalten? In welche Richtung muss ich gehen?«
Der Mann sah ihn über die Glut seines qualmenden Blattes hinweg belustigt an. »Dieser Ort hat keine anständigen Bürger. Huren, Barbesitzer, Säufer, Diebe und Mörder, die findet Ihr hier zuhauf. Mal abgesehen von ein paar Missionaren, die ständig gegen die Sünde anpredigen – hier gibt es niemanden, der reinen Herzens wäre.«
»Aber …« Gregory war verwirrt. In dieses Bild passte seine Anne nicht hinein. »Ich suche die Frau des Kapitäns Nathan Ardroy. Das sollten doch anständige Leute sein.«
»Ardroy? Nie gehört. Wenn es sich um einen aufrechten Kerl handelt – was ich in einem Ort wie diesem bezweifle –, dann hält er sich gut versteckt. Aber vielleicht weiß ja irgendeiner der Kerle in dieser Kneipe etwas von einem Ardroy.« Er deutete lässig über seine Schulter in das Halbdunkel eines Schankraumes hinter ihm. »Eigentlich ist dieser Ort so klein, dass niemand lange verborgen bleibt.«
»Und Euer Name ist …?« Gregory wollte nur höflich sein, bevor er weiter nach Anne suchte.
»Das tut nichts zur Sache. Jeder nennt mich nur den trockenen Wirt. Aber keine Sorge. Das liegt nur daran, dass ich selber nichts trinke. Meine Gäste bekommen reichlich von allem, was sie wünschen. Tretet nur ein.« Er deutete eine Verbeugung an, wies noch einmal
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