Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Neuseeland konnte kein Zufall sein. Vorsichtig bewegte er sein Bein. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihn. Stöhnend fasste er sich an den Oberschenkel und spürte nichts als dicke Verbände.
»Was …?« Er sah den Missionar und die alte Heilerin fragend an.
Sie hob die Hände. »Ich konnte dein Leben retten. Aber der Muskel in deinem Bein wird für immer so hart bleiben wie ein Stück Treibholz. Du wirst für den Rest deines Lebens hinken. Aber das ist besser, als hier unter der Erde zu liegen, nicht wahr?«
Ein Krüppel. Lebendig, aber dazu verdammt, für immer von allen bedauert zu werden. Gregory drehte seinen Kopf zur Seite und sah die Wand an. Die Alte sollte nicht sehen, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen. Denn sie hatte recht: Ein schwaches Bein war ein kleiner Preis für ein Leben. Und vielleicht sollte es so sein, damit er wenigstens ein bisschen Buße für den Mord an diesem Nathan Ardroy tun musste. Vielleicht hatte eine unbekannte Macht Gerechtigkeit gefordert.
»Was ich mich seit Tagen frage …«, unterbrach der Missionar seine Gedanken, »woher hattet Ihr diesen Messerstich? Die Klinge muss sehr scharf gewesen sein, solche Messer haben die Maori nicht. Also einer der Männer hier in Kororareka? Wer war es?«
»Keiner, der wichtig wäre«, versuchte Gregory auszuweichen.
»Und warum habe ich von keinem weiteren verletzten Mann gehört? Ihr seht mir nicht so aus, als ob Ihr Euch ohne Gegenwehr verletzen lassen würdet, Master Mallory.« Der Missionar sah ihn prüfend an.
Für einen Moment erschrak Gregory. Marsden kannte seinen Namen. Aber es dauerte nicht lange, bis ihm einfiel, dass der Kapitän der Mercury ihm sicher verraten hatte, wie er genannt wurde.
Er zuckte mit den Achseln. »Es kommt leicht zu Handgreiflichkeiten an diesem Ort, das muss ich Euch wohl kaum erklären. Ich habe im falschen Moment am falschen Ort mein Bier getrunken, das ist alles.« Er war selbst überrascht, wie leicht ihm die Lüge von den Lippen ging.
Marsden sah ihn prüfend an. »Wenn Ihr das sagt, dann wird das sicher so sein. Allein, es stimmt mich merkwürdig – hier in Kororareka prügeln sich die Männer häufig, zum Messer wird aber trotzdem nur selten gegriffen. Das tun nur wenige, die tollwütigen Hunden gleich beißen …«
»Dann muss ich wohl an einen dieser wenigen Messerstecher geraten sein.«
»… und einer von diesen Männern wurde seit dem Tag nicht mehr gesehen, an dem Ihr hier an meiner Schwelle aufgetaucht seid. Nathan Ardroy. Ihr kennt ihn nicht zufällig?« Jetzt hatten die Fragen des Missionars etwas Drängendes, der lockere Plauderton hatte sich verloren.
Eine Sekunde lang zögerte Gregory. Der Anblick von Ardroys blassen Augen, die ihn durch das Wasser im Mondlicht angesehen hatten, bevor sie endgültig im Meer verschwanden, verfolgte ihn. Dann schüttelte er entschlossen den Kopf. »Kann schon sein, dass ich ihn gesehen habe. Aber wenn er gerne mit seinem Messer gespielt hat, dann ist es sicher kein Verlust für diesen Ort, wenn er nicht mehr hier ist.«
»Der Herr möge mir meine Worte verzeihen«, murmelte Marsden, »aber ich muss Euch leider recht geben. Ardroy brachte nichts als Unglück über eine ganze Menge von Menschen …«
Die Heilerin legte ihre Hand auf Gregorys Stirn. »Er braucht jetzt Schlaf. Ihr müsst euch später weiter unterhalten!«, erklärte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Marsden nickte und erhob sich. »Ich werde später nach Euch sehen. Jetzt erholt Euch.«
»Und noch einmal vielen Dank, dass …«, begann Gregory. Aber der massige Missionar war schon erstaunlich behände durch die Tür verschwunden, und Gregory blieb nichts anderes übrig, als seine Augen zu schließen und in einen tiefen Schlaf zu fallen.
In den nächsten Tagen machte er schnell Fortschritte. Er konnte sich erheben und auf einen Stock gestützt umhergehen. Die Heilerin verließ die Hütte und zog wieder in ihr Dorf, das einige Meilen südlich von Kororareka lag. Als Gregory sich bei ihr bedanken wollte, nickte sie nur. Sie sah ihn aus ihren dunklen Augen an. »Du hast ein gutes Herz und wirst in diesem Land sterben – aber bis dahin ist dir noch ein langes und glückliches Leben beschieden. Geh und such dieses Mädchen, von dem du in deinen Fieberträumen ständig geredet hast …«
Die Bemerkung machte Gregory einige Sorgen. Was hatte er noch gesagt, ohne dass er sich jetzt daran erinnern konnte? War Ardroy in seinem Gerede aufgetaucht, und der
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