Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
einmal die Mühe, ihnen zuzuhören. Unter diese Geräusche mischte sich das laute Schreien der Meeresvögel, die den Mast immer wieder umrundeten. Das Land zog in Sichtweite langsam vorbei – helle Sandstrände, an denen sich seit Jahrtausenden die Wellen brachen, ohne dass die Menschen sich darum gekümmert hätten. Dahinter das sanft hügelige Land, von Wäldern bedeckt, so weit das Auge reichte. Anne lächelte. Irgendwo in diesem Land würden sie und David ihr eigenes kleines Paradies finden. Sie waren jetzt seit zwei Tagen in Richtung Süden unterwegs. Tagsüber bemühte David sich darum, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Und in der Nacht war er ein zärtlicher und aufmerksamer Liebhaber, der sich darum bemühte, sie all ihre Erlebnisse der Vergangenheit vergessen zu lassen. Aber sosehr Anne ihn auch schätzte und als Freund mochte: Wenn sie sich liebten, fühlte sie sich immer noch fremd in ihrem Körper. Sie ertappte sich selbst dabei, dass sie das Gleiche tat wie in den Monaten und Jahren in Kororareka: Sie dachte an etwas anderes, an ihre Vergangenheit oder ihre Zukunft, während David sich um sie und ihren Körper bemühte. Das kam ihr fast wie Verrat an seiner aufrichtigen Liebe und Zuneigung vor … Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie im Lauf der Jahre sicherlich mehr für ihn empfinden würde. Immerhin war die Hölle von Kororareka erst zwei Tage her. Da benötigte ihr Körper wohl etwas mehr Zeit, um wieder zu sich selbst zu finden und zu heilen.
Das Geschrei der Matrosen wurde lauter. Anne öffnete widerstrebend die Augen. Es war die Mittagszeit, wahrscheinlich würden die Seeleute schon bald eine Pause einlegen. Die See war ruhig, der Wind blies gleichmäßig – sie hatten also wirklich nicht übermäßig zu tun, soweit sie das beurteilen konnte. Und seit der langen Überfahrt aus England wusste sie mehr als nur ein bisschen über die Arbeit der Seeleute. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie einer der jüngeren Matrosen einen anderen grob anrempelte. Sie drehte sich um und beobachtete das Geschehen genauer.
Der Angreifer war breitschultrig und recht hochgewachsen. Auf seinem Kinn wuchs ein struppiger Bart, sein Hemd – das wohl vor Urzeiten mal weiß gewesen sein musste – hatte herausgerissene Ärmel. Er sah verwegen aus – und boxte in diesem Augenblick seinem sehr viel schmächtigeren Gegenüber kräftig in die Seite. Der taumelte, wich aber einige Schritte zurück und versuchte den aufgebrachten Angreifer mit ein paar beschwichtigenden Gesten zu beruhigen.
Neugierig geworden, ging Anne etwas näher. Worum mochte es da gehen? Erst jetzt konnte sie verstehen, was die beiden Männer sprachen.
Der Angegriffene versuchte immer noch den Schwarzhaarigen zu beruhigen. »Du kannst ihm doch nicht vorwerfen, dass er Geld hat! Ich meine, wahrscheinlich hat er dafür hart gearbeitet …«
Der andere unterbrach ihn. »Da siehst du wohl was falsch! Wir waren diejenigen, die hart gearbeitet haben, nicht er. Der saß doch nur in seinem feinen Häuschen in Kororareka und hat uns monatelang auf See geschickt. So lange, bis die eigene Frau einen dicken Bauch von einem anderen hat – und Wilcox hat dazu gelächelt und das Geld eingestrichen.«
»Du kannst Wilcox doch nicht vorwerfen, dass deine Frau mit anderen Männern rumgemacht hat. Hättest dir halt eine bessere Frau aussuchen müssen! Eine, die nicht schon beim ersten Alleinsein wegrennt und sich einen Balg von deinem Nachbarn anhängen lässt.«
Der Schwarzhaarige schien für dieses Argument nicht sonderlich zugänglich zu sein. Er zückte ein langes, schmales Messer, mit dem normalerweise den Walen die dicke, feste Haut abgeschält wurde. »Wag es ja nicht, meine Frau zu beleidigen. Sie war einfach zu lange allein, hat geglaubt, dass ich schon tot bin. Es war seine Schuld! Und jetzt soll er dafür bezahlen, ich habe schon alles klargemacht mit Oao… Oaoiti.« Er brachte den Namen nur mühsam heraus, und Anne fragte sich, wer dieser Oao… – wie auch immer er wirklich hieß – wohl war. Klang nach einem Maorinamen.
»Einem Menschen, dessen Namen man nicht problemlos aussprechen kann, sollte man vielleicht besser nicht sein Vertrauen schenken«, giftete sein Gegner. Um Augenblicke später mit einem Schrei in die Knie zu sinken. Der Schwarzhaarige hatte ihm mit einer kleinen Bewegung des Messers einen klaffenden Schnitt am Oberarm zugefügt.
Erst jetzt wurden die anderen Matrosen auf den Streit aufmerksam. Sie kamen
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