Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
ist das?«
»Ach, das ist eine Beere, die die Maori essen. Ich finde sie furchtbar, wenn sie roh ist – aber wenn man sie auspresst und damit eine Art Limonade macht, ist es ganz in Ordnung.« Sie sah Anne gespannt an. »Jetzt will ich aber unbedingt wissen, was dich hierher verschlagen hat. Wie kommt so eine feine Dame wie du auf die Idee, nach Neuseeland zu reisen. Und mach mir nichts vor: Du bist eine feine Dame, das merke ich genau!«
Anne lachte. »Fein? Das ist lange her …« Und sie erzählte ihre Geschichte. Ließ einiges aus – wen interessierten schon Gregory und seine großmäuligen Versprechungen von Hochzeit und Liebe? – und verkürzte die Geschichte von Jamesons Hurenhaus. Es gab zu viele Details, an die sie sich nie wieder erinnern wollte. Trotzdem stand die Sonne schon tief am Horizont, und den Becher mit der merkwürdigen Limonade hatte sie schon einige Male geleert, als sie schließlich zum Schluss kam. »Und jetzt sitze ich hier und warte darauf, dass mein Mann mit ein paar Gewehren für deinen Mann zurückkommt. Ich fürchte, das wird dauern.«
»Auf dem Landweg in den Norden? Du kannst von Glück sagen, wenn er es überhaupt schafft. Das ist sehr weit und ziemlich wild – und dein Walfänger wird keine Ahnung haben, wie man sich im neuseeländischen Busch durchschlägt. Immerhin – gefährliche Tiere haben wir nicht. Hier gibt es nur Vögel, und die sind höchstens aufdringlich.« Lotty schüttelte den Kopf.
»Was will dein Mann denn mit den Waffen? Die Maori haben doch bisher auch nicht mit Gewehren gekämpft?« Diese Frage hatte Anne sich schon einige Male gestellt.
»Ja, das mag sein. Aber das war in der Zeit vor der Ankunft der Pakeha. Die Maori haben diese Waffen gesehen und schnell begriffen, wie sehr ihre Macht und ihr Ansehen steigen, wenn sie so etwas in Händen halten. Also haben sie sich bemüht, mit den Pakeha zu verhandeln. Aber wir haben nicht viel zu bieten: Flachs. Und die tätowierten Schrumpfköpfe der Vorfahren – ekelhaftes, stinkendes Zeug. Und unheimlich noch dazu. Der Vorrat war auch schnell erschöpft, jeder Stamm muss jetzt nach einem anderen Weg suchen, um an mehr Gewehre zu kommen. Da ist so ein kleiner Überfall auf ein Pakehaschiff doch ganz hilfreich. Wäre euer Kahn nicht untergegangen, dann wären ja auch schon lange alle glücklich – mein Stamm hätte ein paar Gewehre, und euer Kapitän hätte das Schiff. Lief nur offensichtlich nicht so, wie er sich das ausgedacht hat. Ist eben nicht so richtig ein heller Kopf, dieser Paddy-Jay.«
Anne musterte die Frau, die ihr gegenübersaß. »Jetzt will ich es aber auch wissen. Woher kommt es, dass du hier in der Wildnis lebst. Keine Geisel, keine Gefangene, sondern eine geachtete Frau. Das verstehe ich nicht.«
Lotty lachte wieder. Die tiefen Fältchen um ihre Augen zeigten, dass sie das oft tat. »Das mache ich gerne – aber meine Geschichte ist so lang, dass wir lieber erst einmal etwas essen. Komm, wir gehen zu den anderen Frauen, und ich stelle dich endlich einmal ordentlich vor.«
An Lottys Seite fühlte Anne sich sehr viel sicherer, als sie wieder den Kochplatz betrat. Lotty erklärte etwas in der Sprache der Maori – und die anderen lachten herzlich und schlugen sich vor Vergnügen sogar auf die Schenkel. Als Nächstes bereiteten sie rötliche Knollen und fremdartige Wurzeln für die Mahlzeit vor. Lotty deutete auf die Knolle. »Das ist die Grundlage für den Brei, den du wahrscheinlich seit Tagen bekommst. Kumara. Schmeckt gar nicht schlecht, ist schön süß.« Sie zeigte noch ein paar andere Pflanzenteile. Sprösslinge von Farnen, unscheinbare Früchte, verknotete Wurzeln und sogar ein paar Blüten. Dazwischen ein Haufen Muscheln, deren Schalen im Inneren in allen Farben des Regenbogens schimmerten. »Paua. Superleckeres Fleisch. Dafür müssen wir felsigere Stellen an der Küste finden – gibt es aber reichlich. Ich finde, der Geschmack schlägt jeden Fisch und jeden Krebs.«
Anne half, so gut sie konnte, bei der Zubereitung des Abendessens. Dieses Mal stand sie wenigstens nicht nutzlos herum, sondern durfte mit Lottys Anweisung tatkräftig helfen. Als sie schließlich mit den anderen gemeinsam das Abendessen servierte, fühlte sie sich nur noch halb so fremd. Und Lotty hatte keine Sekunde gelogen, als sie vom Geschmack der Paua geschwärmt hatte: Das feste Fleisch war wirklich eine echte Delikatesse! Sie aß mit Appetit und wurde zum ersten Mal seit Tagen richtig satt – und ihr wurde
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