Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
– und sich dann unter einen Baum gesetzt und über meinen Schlaf gewacht. Das hat in meinem Leben noch nie jemand gemacht. An diesem Tag habe ich Jeremiah begraben. In das Grab gezerrt, Sand und Erde draufgeschmissen und am Schluss noch ein paar schöne Blumen von irgendeinem Strauch draufgelegt. Noch ein Weilchen den Boden gestreichelt …
Und dann hat Oaoiti mich an die Hand genommen und in sein Dorf geführt. Hat wenig geredet, aber versucht, mir deutlich zu machen, wo man isst, wo seine Geschwister wohnen, wer seine Eltern sind … An diesem Tag habe ich die ersten Maoriwörter gelernt. Blieb mir ja auch nichts anderes übrig.
Sie haben mich nett aufgenommen. Eine Schwester von Oaoiti hat mir jeden Tag neue Wörter beigebracht. Auf etwas gedeutet und den Maorinamen dazu gesagt. Auf mich gedeutet und gesagt: »Maori-Pakeha«. So nennen sie die Weißen, wenn sie bei den Maori wohnen. Und genau das bin ich geworden.
Ich war so fasziniert von meinem neuen Leben, dass ich am Anfang gar nicht gemerkt habe, dass ich immer dicker geworden bin. Erst als ich Tritte spürte, wurde mir klar, dass Jeremiah nicht ohne Spuren gegangen ist. Ich denke, es war ein halbes Jahr nach seinem Tod, als ich Sarah zur Welt brachte. So habe ich sie genannt. Sarah.
Die Maori, die schon Kittys Angel gerettet hat, hat mir bei der Geburt geholfen. War ganz einfach, Sarah hat mir das Leben nicht schwer gemacht. Hat sie nie. Da ist ihr Bruder ein anderes Kaliber. Der kam ein Jahr nach ihr. Da habe ich schon lange die Sprache der Maori verstanden und auch begriffen, dass Oaoiti mit mir zusammen sein wollte. Ich habe mich umgesehen und erkannt, dass mein Leben gut ist. Gut, weil Oaoiti mich aus der Einsamkeit geholt hat. Aus der Verzweiflung. Ein paar Wochen nach Sarahs Geburt habe ich ihn an der Hand genommen und in den Busch geführt. Seine Haut roch nach Kräutern und Gras und Wind und Meer – und es war unendlich schöner als alles, was ich jemals zuvor erlebt hatte. Ich bin mit ihm zusammengeblieben, hab ihm auch ein wenig Englisch beigebracht. Freu mich heute noch, wenn er mich in meiner Hütte besucht. Kommt nicht mehr so oft vor, aber hin und wieder ist er noch hier bei mir.
Die hat er mir gebaut, als Amiri auf die Welt kam. Sein erster Sohn. Ein Maori, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist – bis auf die Augen. Die hat er von mir. Ganz hell. Er wird irgendwann mal der Häuptling von diesem Stamm sein und sie in eine neue Zukunft führen. Eine Zeit, in der Maori und Pakeha nicht mehr gegeneinander kämpfen. Aber vielleicht ist das ja nur die Hoffnung einer stolzen Mutter – ich weiß es nicht …
EAST CAPE, 1832
24.
Lotty schwieg und sah in ihren Becher, der schon lange leer getrunken war. Es war später Abend, die Feuer in den anderen Hütten schon lange gelöscht. Ihre heisere Stimme, die ohne große Gefühlsregungen die lange Geschichte ihres Lebens erzählt hatte, war verstummt. Sie schien noch immer der Zeit damals mit Oaoiti nachzuhängen, Anne wagte nicht, das Schweigen zu unterbrechen. Im Stillen rechnete sie nach – und sagte schließlich: »Jeremiah ist vor über zwanzig Jahren gestorben – und seitdem warst du kein einziges Mal mit anderen Engländern zusammen außer diesen Seeleuten?«
Sie schien aus ihren Gedanken aufzuschrecken und lachte auf. »Habe es nicht vermisst, kannst du mir glauben. Mein Mädchen redet im Gegensatz zu Oaoiti Englisch mit mir, habe ich ihr beigebracht – sie weiß, dass irgendwann mehr Siedler hier in Neuseeland ankommen. Dann ist es wichtig für den Stamm und unseren Pa, wenn wir jemanden haben, der beide Kulturen versteht.«
»Deine Tochter versteht beide Kulturen? Sie war doch nie in England, sondern immer nur hier im Busch?« Anne sah die ältere Frau fragend an.
»Stimmt. Aber ich habe ihr so gut wie möglich erklärt, was London ist. Wer König Georg ist …«
»Wir haben inzwischen Wilhelm«, unterbrach Anne sie.
Lotty schien das nicht sonderlich zu stören. »Mag sein. Aber es geht darum, dass sie versteht: Auch Pakeha haben einen Häuptling, der ihre Gesetze macht. Du wirst schon noch sehen – sie kann dafür sorgen, dass unsere beiden Völker sich ein bisschen verstehen.«
»Wo steckt sie denn?« Anne war bisher noch kein englisches Mädchen aufgefallen. Oder eine junge Frau.
»Sie ist mit ihren Freundinnen im Pa. Dem Dorf der Maori hinter den Palisaden. Du wirst sie schon noch kennenlernen«, erklärte Lotty. Um dann mit einer entschlossenen
Weitere Kostenlose Bücher